Vollmondkuss
wartete auf sie.
»Hey«, sagte er leise.
»Hey«, sagte Jolin.
»Geht es dir gut?«
»Natürlich.«
»Das ist Blödsinn«, sagte Leonhart. »Ich hab gesehen, dass du geweint hast.«
Jolin zuckte die Schultern. Was sollte sie auch sagen. Das Ganze war ihr schrecklich unangenehm.
»Und ich hab auch gesehen, dass du vorher mit Rouben geredet hast«, setzte Leonhart hinzu.
»Ja? Und?«
»Er ist ein ziemlich arroganter Kerl«, sagte Leonhart.
Jolin stöhnte. »Vielen Dank für die Aufklärung.«
»Meine Güte!«, platzte Leonhart heraus. »Warum bist du bloß immer so? Als ob man dir etwas wollte!«
»Entschuldigung«, sagte Jolin. »Aber mit manchen Dingen muss man eben alleine klarkommen.«
»Denkst du?«
»Ja, denke ich.«
Leonhart nickte. Schweigend liefen sie ein Stück nebeneinander her. »Also, ich bin froh, wenn ich über das, was mich bewegt, mit anderen reden kann.«
»Ich bin eben anders«, erwiderte Jolin.
»Das ist dein gutes Recht.«
»Das wiederum sehen längst nicht alle so.«
»Du meinst Klarisse und ihre Freundinnen?«
Jolin nickte. »Mit Anna war ich mal richtig dicke.«
»Okay, das tut weh«, sagte Leonhart. »Aber es muss ja nicht automatisch zur Konsequenz haben, dass du dich von allen abkapselst.«
»Was soll ich denn machen?«, erwiderte Jolin. »Die finden mich fad. Na ja, und vielleicht ein bisschen verbissen.«
Leonhart lächelte. »Revoluzzer sind eben nicht mehr überall gefragt.«
Jolin lächelte ebenfalls. »Nee, heutzutage ist man wohl lieber grell geschminkt und angepasst.«
»Ich glaube, das hast du gut erkannt«, sagte Leonhart. »Klarisse zum Beispiel, die würde ich gerne mal sehen, wie Gott sie erschaffen hat.«
»Was?«, sagte Jolin.
»Nicht, weil ich scharf auf sie bin«, erwiderte Leonhart hastig. »Sondern einfach nur ohne diesen ganzen Kunst-kram. Ich wüsste gerne, was wirklich echt an ihr ist. Ich wette, sie ist viel zahmer und bürgerlicher, als sie tut.«
»Willst du mich damit trösten?«, fragte Jolin.
»Vielleicht. Auf jeden Fall finde ich dich nicht fad. Im Gegenteil, ich finde es gut, wenn man Ideale hat, für die man kämpfen kann.«
Wenn du wüsstest, wie weit sich meine eigenen Ideale inzwischen von mir entfernt haben, dachte Jolin. Manchmal weiß ich ja selbst nicht mehr, wie ich überhaupt bin.
»Hast du mittlerweile Carina eigentlich mal besucht?«, fragte sie, um vom Thema abzulenken. Leider merkte sie viel zu spät, dass sie damit etwas angesprochen hatte, über das sie eigentlich auch nicht wirklich gerne reden wollte.
»Ja.«
»Und?«
»Es geht ihr besser.«
»Gut.« Jolin zögerte, bevor sie die nächste Frage über ihre Lippen ließ. »Redet sie drüber?«
»Nicht viel«, sagte Leonhart. »Ich habe das Gefühl, dass sie gar nicht wirklich alles mitgekriegt hat. Vielleicht verdrängt sie es auch. Die Seele hat ja Schutzmechanismen. Einmal behauptet sie, dass sie einen Vampir gesehen hätte, dann wiederum sagt sie, dass überhaupt niemand da gewesen wäre. Und immer wieder erzählt sie, dass der Hund so schrecklich geschrien hätte. Fast wie ein Kind.«
In Jolin krampfte sich alles zusammen. Sie mochte sich wahrlich nicht vorstellen, dass Rouben etwas derartig Entsetzliches getan haben konnte.
»Glaubst du, Carina mag dich?«, fragte Jolin.
Leonhart seufzte. »Ich hoffe es. Aber im Moment ist sie für dieses Thema wohl nicht so zugänglich ...« Er sah Jolin von der Seite an. »Und du magst Rouben, stimmt’s?«, sagte er.
»Da irrst du dich aber!«, erwiderte Jolin heftig. »Er hat sich geradezu aufgedrängt.«
Leonhart nickte. »Ich weiß ...«
»Du beobachtest mich?«
»Ihn«, betonte Leonhart. »Ich finde ihn nach wie vor merkwürdig. So aalglatt geschliffen, irgendwie. Na ja, und weil er sich so an dich geklettet hat, beobachte ich dich natürlich ebenfalls. Zugegebenermaßen bist du mir dadurch erst wirklich aufgefallen. Vorher habe ich gar nicht gemerkt, wie hübsch du bist und wie klug und wie viel Ausstrahlung du haben könntest, wenn du nur wolltest.«
Jolin schüttelte den Kopf. »Du bist ganz schön direkt.«
»Entschuldigung.« Leonhart tat zerknirscht. »Trotzdem bin ich froh, dass ich dich ein bisschen kennengelernt habe.« Er hob die Hände. »Und ich bitte sehr darum, dass das jetzt nicht fehlinterpretiert wird.«
»Nur keine Panik«, sagte Jolin. Mit einem Mal fühlte sie sich irrsinnig leicht. Sie dachte an Rouben, an das Schwarze, die Kälte und die Dunkelheit, die ihn umgab und von der sie sich
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