Vollmondkuss
verleihen. »Und wir zwei, wir sehen uns dann Montag früh im Englischkurs.«
Jolin spürte Leonharts brennenden Blick in ihrem Rücken, als sie auf den schwarzen Bus zulief. Klar, sie hätte ihm vorwerfen können, dass er ein Feigling war und nicht um das Leben seiner Stufenkameraden kämpfen wollte. Schließlich hätte er Rouben diesen mörderischen Splint auch selber ins Herz jagen können. Aber sie verstand, dass er kein Risiko eingehen wollte. Leonhart sehnte sich danach, bei Carina zu sein, und das war völlig in Ordnung so. Jolin war froh um jeden, der es vorzog, nicht auf diese Party zu gehen.
Kurz bevor sie den Bus erreichte, verzögerte sie ihren Schritt. Inzwischen waren auch einige ihrer Mitschüler eingetroffen. Jolin erkannte Tanja, Simone und Anna-belle im hinteren Teil des Fahrgastraums. Weiter vom standen ein paar Typen aus dem Kunstkurs und schienen eifrig miteinander zu diskutieren. Hinter ihr ertönte das Schlagen von Absätzen auf dem Pflaster, und ein paar Sekunden später rannten sechs Mädchen an ihr vorbei. Klarisse, Anna, Susanne, Melanie, Rebekka und Katrin. Kichernd erklommen sie die Trittstufen und drängten sich vorbei in den hinteren Teil des Busses. Anna setzte sich ans Fenster und blickte zu ihr herüber.
Bald werden wir über alles reden, dachte Jolin. Versprochen! Sie beschleunigte ihr Tempo, stieg ebenfalls in den Bus und ließ sich gleich hinter Edmond auf eine mit weichem, schimmerndem Samt bezogene Doppelbank sinken.
Die Stimmung im Fahrgastraum war seltsam überreizt. Es wurde eine Spur zu laut geredet und ein wenig zu hell gelacht. Die Anspannung war deutlich zu spüren. »Eine ulkige Veranstaltung ist das, wenn man nicht einmal weiß, wo sie überhaupt stattfindet!«, rief jemand.
»Dann steig doch aus, wenn es dir unheimlich ist«, rief Klarisse.
»Unheimlich? Wieso unheimlich? Also, ich find’s ’ne coole Idee. Scheint ja echt Kohle zu haben, der Knabe«, erwiderte ein anderer.
»Ist überhaupt schon mal jemand bei Rouben zu Hause gewesen?«, fragte Annabelle.
»Nee«, antworteten gleich mehrere, und Katrin sagte: »Der schweigt sich da doch total aus. Und aus der Sekretärin kriegt man auch nichts raus. Hab ich nämlich bereits versucht.«
Klarisse lachte hell und rief: »Ihr könnt mich hinterher gerne alle einseifen, aber ich glaube nicht, dass diese Party bei ihm zu Hause stattfindet.«
In diesem Moment schloss sich die Fahrertür. Edmond startete den Motor, und der Bus rollte ruckelnd über die Kante des Bürgersteigs auf die Straße hinunter. Jolins Herzschlag legte einen Takt zu, und ihre Hände fingen an zu schwitzen. Leonhart hatte recht, sie musste verrückt sein. Aber nun war es zu spät, sie konnte ohnehin nicht mehr zurück. Und genau genommen wollte sie es auch gar nicht.
Jolin lehnte den Kopf gegen die Scheibe, schloss die Augen und nahm das tiefe, gleichmäßige Brummen des Motors in sich auf. Sie spürte die Vibration in jedem einzelnen Muskel und entspannte sich allmählich.
Als sie nach einer Weile die Augen wieder aufschlug, stellte sie fest, dass der Bus die Stadt in südlicher Richtung verlassen hatte und die Landstraße zum Rackeberger Forst entlangfuhr. Kurz hinter der S-Bahn-Station bremste er und bog rechts in einen schmalen holperigen Schotterweg ein. Edmond schaltete in den ersten Gang runter und quälte den Bus weiter in engen Serpentinen bergauf, bis eine Kutsche vor ihnen auftauchte und der Fahrer das Tempo wieder drosseln musste.
»Hey, geil, die ist garantiert noch aus dem 19. Jahrhundert!«, rief Tanja. »Mit so einem Teil wollte ich immer schon mal fahren.«
»Kannst ja umsteigen«, schlug jemand vor, und Tanja lachte.
»Ich glaube, diesen Weg hier, den gibt es gar nicht«, hörte Jolin Annabelle sagen.
»Stimmt«, bestätigte Simone beklommen. »Als wir letzte Woche die Exkursion zur Ruine gemacht haben, sind wir einen völlig anderen Weg gegangen. Der müsste hier irgendwo parallel zu diesem hier verlaufen.«
Tanja lachte. »Ich glaub, bei dir läuft auch irgendwo was parallel. Wege, die es nicht gibt, kann man auch nicht benutzen. Okay?«
»Okay, okay«, sagte Simone.
Der Bus nahm noch eine enge Kurve, dann tauchte völlig unvermittelt die Burg vor ihnen auf.
»Wow! Was ist denn das?«, rief Katrin. »Ich wusste gar nicht, dass das Ding noch steht. Ich dachte, diese Burg wäre total verfallen.«
»Ist sie auch«, sagte Annabelle verwundert. »... Eigentlich.«
Jolin rutschte auf ihrem Sitz in Richtung
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