Vollmondkuss
Mittelgang und sah an Edmond vorbei durch die Frontscheibe. Tatsächlich schien die Burg, die noch vor einigen Tagen aus bröckeligem Mauerwerk und zum größten Teil zerfallenen Gebäudeteilen bestanden hatte, nun völlig intakt zu sein. In den Schießscharten der Außenmauer flackerten Laternen, ein großer Teil des Hauptgebäudes war hell erleuchtet, und die mächtige bogenförmige Holztür wirkte frisch geölt. Die Kutsche, die von vier Rappen gezogen wurde, hielt direkt vor der breiten Treppe. Der Kutscher sprang vom Bock, riss die Tür auf und verbeugte sich. Zwei ältere Frauen, beide in schwarze weite Röcke und eng auf Taille geschnürte Samtjacken gehüllt, verließen die Kutsche und stiegen in vornehmer Haltung die Treppe hinauf.
Edmond wartete, bis der Kutscher auf seinen Bock zurückgekehrt war und die Pferde in Richtung Tränke gelenkt hatte, dann ließ er den Bus langsam neben den Treppenaufgang rollen, stellte den Motor ab und öffnete die Tür.
Klarisse und Rebekka waren als Erste draußen. Katrin, Susanne, Melanie und Anna folgten, die anderen ließen sich Zeit, und Jolin verließ ihren Platz erst ganz zum Schluss. Sie zog den Reißverschluss ihres Mantels zu, schob die Hände in ihre Taschen und sah zum Eingangsportal hinauf. Unter der runden weißen Mondscheibe wirkte die Burg wie ein Gemälde. Gespenstisch reckten sich die beiden Türme in den klaren Himmel, der sich sternenlos wie ein feines schwarzes Tuch über den Hügel spannte. Neben dem Portal stand Rouben und begrüßte seine Gäste. Er trug eine schwarze Lederhose, ein silbrig schimmerndes Hemd und darüber einen langen schwarzen Gehrock. Seine Haare wehten leicht im Wind, seine Gesichtshaut war sanft gerötet und sein Blick freundlich, aber distanziert. Er sah umwerfend aus, und Jolin musste sich zwingen, ihn nicht anzustarren. Hastig senkte sie den Blick und setzte ihren Fuß auf die unterste Stufe der Steintreppe. Mit schnellen Schritten folgte sie Tanja, Simone und Annabelle und versuchte sich hinter ihnen in Deckung zu halten. Vielleicht konnte sie auf diese Weise unbemerkt in die Burg schlüpfen. Doch Rouben ergriff sie am Arm und hielt sie sanft zurück. »Schön, dass du da bist«, sagte er leise. Um seine Lippen spielte ein Lächeln, doch seine Augen behielten ihren eher kühlen Ausdruck.
Jolin ließ ihre Hände fest in den Manteltaschen vergraben und sah ihn schweigend an. Mal sehen, ob du um Mitternacht noch immer dieser Meinung bist, dachte sie. Das Lächeln in Roubens Mundwinkeln verschwand. Jolin wandte sich ab und trat durch das Portal in ein gedrungenes Gewölbe.
An den Wänden waren Eisenhalterungen angebracht, in denen lodernde Fackeln steckten. Zwei hagere, totenbleiche Männer nahmen die Mäntel und Jacken der Gäste entgegen und hängten sie in einen grob gezimmerten Ebenholzschrank. Jolin stopfte den dunkelblauen Schal in einen der Ärmel, bevor sie ihren Steppmantel abgab. Sie beeilte sich, hinter Tanja, Simone und Annabelle hinterher zukommen, die bereits den engen dunklen Wehrgang
hinaufliefen, den ihnen ein etwa zehnjähriges Mädchen in einem rauchblauen Spitzenkleid zugewiesen hatte.
»Habt ihr das auch gerochen?«, wisperte Tanja.
»Ja, irgendwie seltsam nach Mottenkugeln«, erwiderte Annabelle. »Meine Oma hat eine Kiste voller alter Kleider auf dem Dachboden. Darin mieft es genauso.«
»Noch extremer fand ich allerdings ihren Blick«, flüsterte Simone. »Der war so alt und aufgebraucht wie bei einer Hundertzwanzigjährigen, dabei war die Kleine doch allerhöchstens zehn oder elf.«
»Ich glaube, wir sollten endlich aufhören, uns zu wundern«, sagte Annabelle. »Wir wissen doch, dass diese Burg so, wie wir sie hier gerade erleben, gar nicht existiert.«
»Na super.« Simone stöhnte leise. »Und wie, bitte schön, erklärst du dir das?«
»Projektionen«, erwiderte Simone. »Roubens Familie ist bestimmt steinreich. Die scheuen keine Kosten und Mühen, ihrem Sohn die geilste Party des Jahres zu finanzieren.«
Tanja schlug mit der flachen Hand gegen die Steine der Außenmauer. »Du meinst, das ist alles Cyberworld? Projektionen, die man anfassen kann?« Sie tippte sich an die Schläfe. »Ganz schön crazy, wenn ihr mich fragt.«
Inzwischen hatten sie das Ende des Ganges erreicht, und vor ihnen tat sich ein riesiger Saal auf, dessen Einrichtung kaum noch an eine karge, von Rittern bewohnte Burg erinnerte. Die hohen Wände und die Decke waren glatt verputzt und in einem dunklen Rot gestrichen. An
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