Vollmondkuss
vincent, das hat sie nicht, weil ich in der entscheidenden, in der allerletzten Sekunde, nämlich genau in dem moment, in dem sich die prophezeiung erfüllt, all ihre hoffnungen zerstören werde.
19
Von ihrem Zimmer aus verfolgt Ramalia die zunehmende Unruhe auf dem Burggelände. Sie spürt keine Reue, wenn sie Antonin oder Vincent heimlich beobachtet.
Sie hat sich längst entschieden. Der erste Teil des Gesetzes zur Auflösung einer mutwillig begangenen Familienschande, das vor hunderttausenden von Jahren im Rat der alten Vampire durch ein Ritual beschlossen wurde und DIE PROPHEZEIUNG genannt wird, kennt jedes Wesen, das der Welt der Dunkelheit angehört. Ramalia weiß, dass sie alles riskiert, wenn sie Jolin auch den zweiten Teil zugänglich macht.
Aber sie sieht keinen anderen Weg, diesem Mädchen den Schleier von den Augen zu ziehen. Denn nur sie allein kann Rouben dazu bringen, sie alle zu retten.
»Ich finde es gut, dass du es dir nochmal anders überlegt hast«, sagte Anna am Abend des 21. Dezembers.
Die U203 lief gerade in die Station Lessingallee ein. Die Mädchen standen von ihren Plätzen auf. »Ich habe keine Lust auf Klarisse, Rebekka und Co«, sagte Jolin. »Es reicht mir, wenn ich sie auf der Party ertragen muss.«
»Schon gut«, sagte Anna.
»Nichts ist gut. Du musst dich endlich entscheiden, auf wessen Seite du stehst.«
»Das kann ich nicht.«
»Stell dir vor, das habe ich mir fast gedacht.«
Die U-Bahn hielt, die Türen öffneten sich, und Jolin ging zügig, ohne weiter auf Anna zu achten, über den Bahnsteig auf die Rolltreppe zu. Sie eilte an den stehenden Leuten vorbei nach oben und lief schnurstracks weiter in Richtung Schule. Jolin trug ihren Steppmantel und den Schal und darunter eine dunkle Jeans und einen schwarzen Rollkragenpullover. Auf Schmuck und Makeup hatte sie wie immer völlig verzichtet. Jolin wollte so unauffällig wie nur irgend möglich sein, schließlich hatte sie nicht die geringste Vorstellung davon, in welcher Weise sie überhaupt Einfluss auf die Geschehnisse dieses Abends nehmen konnte. Noch weniger hätte sie es allerdings ertragen, untätig zu Hause zu sitzen. Und es war nicht nur das Schicksal ihrer Stufenkameraden oder der zwölf auserwählten jungfräulichen Mädchen, das Jolin auf diese Party trieb, sondern vor allem das mittlerweile kaum noch zu ertragende Wissen, dass ihr selbst dabei offenbar eine Schlüsselrolle zufiel.
In Gedanken hatte sie an diesem Tag bereits unzählige Male das Szenario des Abends durchzuspielen versucht. Da Rouben den Ort seines fulminanten Vollmondevents jedoch geheim gehalten hatte, fehlten ihr entscheidende Informationen. Also konzentrierte sie sich in ihrer Vorstellung auf das Kernereignis der Party: Punkt Mitternacht würde Rouben zwölf Mädchen küssen. Die Prophezeiung sagte, dass dies die einzige Chance für ihn war, seine Familie von der Schande, die seine Mutter über sie gebracht hatte, reinzuwaschen. Wahrscheinlich waren die zwölf Mädchen das Pfand, das die Welt des Lichts an die Welt der Dunkelheit zu zahlen hatte. Rouben selbst würde dafür die Sterblichkeit menschlichen Lebens geschenkt bekommen. Und damit auch die Chance, mit ihr - wenn er es denn wollte - zusammen sein zu können. Aber um welchen Preis?
Während sie die Lessingallee entlanglief, legte sich eine bleierne Schwere über Jolin und drückte quälend auf ihr Herz. Plötzlich dachte sie nur noch an Anna. Anna, wie sie lachte. Anna, wie sie mit glänzenden Augen von den Eigenarten einer seltenen Affenart erzählte. Anna, wie sie sich gegen Jolins Schulter schmiegte oder ihr etwas zuflüsterte und ihr dabei mit ihrem Atem das Ohr kitzelte. All das war schon so lange vorbei. Aber wie sehr es ihr tatsächlich fehlte, begriff Jolin erst jetzt, nachdem ein dunkler Fremder aus dem Nichts aufgetaucht war und sich anmaßte, es in nur einer einzigen Nacht tatsächlich und womöglich unabwendbar für immer zu zerstören.
Jolin kämpfte mit den Tränen. »Bitte verzeih mir, Anna«, murmelte sie. »Es tut mir so leid, dass ich dir den Spaß mit Klarisse und den anderen nicht gegönnt habe. Nicht du musst dich entscheiden, sondern ich! Und ich, verdammt nochmal, entscheide mich für dich. Und zwar ganz egal, mit wem du zusammen bist und was du tust oder denkst!«
Es tat ihr gut, diese Sätze nicht einfach bloß in Gedanken zu formulieren, sondern auch wirklich auszusprechen.
Sie vertrieben die Schwere und die Dunkelheit aus Jolins Herzen und ließen
Weitere Kostenlose Bücher