Vollmondkuss
einen Funken Hoffnung in ihr aufkeimen, dass sie an diesem Abend irgendwie die Kraft aufbringen könnte, die Erfüllung der Prophezeiung zu verhindern. Natürlich war Jolin klar, dass sie sich damit gegen Rouben stellte. Sie hatte nicht die geringste Ahnung, was mit ihm geschehen würde, wenn er es nicht schaffte, das Pfand für seine Sterblichkeit einzulösen. Aber darüber wollte sie jetzt nicht nachdenken. Jolin konzentrierte sich mit aller Kraft auf Anna. Wenn sie nur sie retten könnte, dann wäre das schon mal mehr als nichts.
Neben der Einfahrt zum Schülerparkplatz stand ein Thomas Conventional, ein alter amerikanischer Schulbus. In seinem makellosen schwarzen Lack spiegelte sich das Licht der Straßenlaternen ebenso wie in den Chrombeschlägen an Leuchten, Stoßstangen und Radkästen. Der Innenraum war beleuchtet, und hinter der Frontscheibe erkannte Jolin das bleiche rundliche Gesicht von Roubens Fahrer Edmond. Er saß vollkommen reglos hinter dem Steuer und blickte stur geradeaus.
»He!«, hörte Jolin jemanden zischen, und als sie sich in die Richtung drehte, aus der der Ruf gekommen war, bemerkte sie Leonhart. Er stand hinter der Mauer aus grauen Ziegelsteinen, die den Parkplatz zur Straße hin in Brusthöhe abgrenzte.
Jolin ging zögernd auf ihn zu. »Was ist? Warum versteckst du dich?«
»Ich hab keine Lust, von allen möglichen Leuten gesehen zu werden und blöde Fragen zu beantworten.«
»Heißt das, du gehst nicht auf die Party?«, fragte Jolin.
»Genau.«
»Und was machst du dann hier?«
»Ich wollte ganz sicher sein, dass du auch nicht gehst«, sagte Leonhart.
Jolin sah ihn an. Gerührt bemerkte sie den besorgten Ausdruck in seinen Augen. »Ich muss da hin.«
»Aber Carina hat gemeint ...«
»Sag bloß, sie ist wieder ...normal?«, stieß Jolin hervor.
Leonhart nickte. »Na ja, was heißt schon normal? Zumindest redet sie wieder. Und, Jolin ...« Er umfasste das Ende des dunkelblauen Schals, das über den Kragen ihres Steppmantels hinausragte, »... sie ist sich inzwischen ganz sicher, dass es Rouben war, den sie letzten Monat im Südpark gesehen hat. Er hat der alten Dame den Hund einfach aus der Hand gerissen und ihm seine Zähne in den Hals geschlagen.«
»Ich weiß«, presste Jolin hervor. »Leo, ich weiß.«
»Und trotzdem willst du da hin?« Kopfschüttelnd deutete er auf den Schulbus. »Auf diese Party? Ist dir eigentlich klar, wie unwahrscheinlich es ist, dass du jemals wieder zurückkommst?«
Jolin nickte nahezu unmerklich. »Nicht nur ich. Die anderen auch«, sagte sie tonlos. »Deshalb muss ich da hin, Leo, verstehst du, ich kann sie doch nicht einfach ihrem Schicksal überlassen. Ich habe versucht, mit Anna zu reden, aber sie hat mich nur ausgelacht.«
»Und wenn es um dich geht?«, erwiderte Leonhart. »Wenn Rouben es nur auf dich abgesehen hat?«
So ist es aber nicht, dachte Jolin. Doch das konnte und wollte sie hier und jetzt nicht erklären. »Es ist echt lieb von dir, dass du dich so um mich sorgst«, sagte sie statt-dessen. »Aber ...«
»Echt lieb - ach ja?« Leonhart stieß einen Schwall Luft aus. »Okay, ich merke schon, du willst dich nicht davon abhalten lassen. Na ja, du hast ja immer schon einen sehr eigenen Kopf gehabt, Jolin Johansson. Vielleicht bist du aber auch einfach bloß ein bisschen verrückt.« Er versuchte ein Lächeln, doch es rutschte ihm aus dem Gesicht. »Wie auch immer«, fuhr er fort. »Ich hab mir schon gedacht, dass ich dich nicht davon abhalten kann. Und deshalb habe ich dir das hier mitgebracht.« Er öffnete seine Jacke und zog einen schweren Hammer und einen daumendicken, cirka zwanzig Zentimeter langen Eisensplint darunter hervor.
»Was soll ich denn damit?«, fragte Jolin irritiert. Im selben Moment wurde ihr klar, dass es genau ein solcher Metallsplint gewesen sein musste, den Harro Greims in der Nacht, in der sie die tote Fledermaus zu ihm brachte, hinter seinem Rücken versteckt hatte.
Leonhart stöhnte leise. »Ach komm schon, das weißt du genau.«
»Denkst du ernsthaft, ich könnte Rouben dieses Ding in die Brust rammen?« Jolin schüttelte den Kopf. »Vergiss es, Leo. Das kann ich nicht.«
»Bitte, nimm es trotzdem mit«, flehte er. »Für alle Fälle. Bestimmt kannst du dir jetzt noch gar nicht vorstellen, wozu du nachher vielleicht fähig sein wirst.«
Jolin blickte auf das seltsame Besteck in Leonharts Hand und dann in seine Augen. »Geh zu Carina«, sagte sie und versuchte ihrer Stimme einen festen Ton zu
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