Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Vollmondkuss

Titel: Vollmondkuss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patricia Schroeder
Vom Netzwerk:
wusste Jolin - woher auch immer -, dass es genau so passieren musste.
    Immer wieder sah sie ihre Mutter vor dem toten Tier hocken, das einfach so ohne jeden ersichtlichen Grund verendet war. Obwohl sie ihn nicht gehört hatte, spürte Jolin seinen Schrei bis tief ins Knochenmark hinein. Inzwischen war ihr klar geworden, dass das, was in den letzten Nächten über ihrem Fenster unter der Dachrinne gehockt hatte, kein Käuzchen gewesen war. Natürlich nicht! Käuzchen verirrten sich ebenso wenig in Großstädte wie Fledermäuse. Jolin hatte von Anfang an gespürt, dass dieses Tier etwas Ungewöhnliches war, sie hatte nur nicht zugelassen, dass dieses Gefühl sich als düstere Ahnung in ihr festsetzte.
    Mit jedem Schritt, den Jolin sich weiter in den Gang vortastete, schlug ihr Herz härter und schneller. Ihr Atem ging stockend und viel zu laut. Dann stand sie plötzlich vor der Nische. Der Heizungsraum war nur noch knapp zwei Meter von ihr entfernt. Sie huschte daran vorbei, packte die schwere Metalltür an der Klinke und schlug sie zu. Was auch immer sich hinter dem Heizkessel verbarg, es sollte nicht einfach aus der Dunkelheit herausspringen können. Die geschlossene Tür gab Jolin ein Gefühl der Sicherheit, auch wenn sie wusste, dass diese trügerisch war. Den Heizungsraum fest im Visier, tappte sie seitwärts auf den Restmüllcontainer zu und drückte die Klappe hoch. Zum Glück war er gut gefüllt und die Tüte lag gleich obenauf. Jolin packte sie und raste dann wie angestochen den Gang zurück, riss die Kellertür auf und flüchtete sich ins Treppenhaus.
    Ihre Schritte hallten auf der Steintreppe, als sie zwei Stufen auf einmal nehmend ins Erdgeschoss hinaufrannte, dann war sie endlich bei der Haustür. Jolin schlüpfte nach draußen, lehnte sich neben der Klingelschildleiste an die Wand, schloss die Augen und verschnaufte.
    Sie hörte den Verkehrslärm der entfernten Hauptader, und dieses Geräusch beruhigte sie. Eine Straße weiter ertönte eine Hupe. Jolin atmete noch einmal tief durch und öffnete ihre Augen wieder. Sie trat auf den Bürgersteig und bog in Richtung U-Bahn-Station ab. Aus den Augenwinkeln bemerkte sie, dass im Erdgeschoss ihres Hauses Licht angegangen war. Wahrscheinlich hatte ein neugieriger Nachbar ihre Schritte gehört und wollte nachsehen, wer wohl so früh durchs Haus gerannt war.
    Unwillkürlich ging Jolin schneller. Sie hatte keine Lust, aufgehalten und mit dummen Fragen belästigt zu werden. Sie wollte die Sache so rasch wie nur irgend möglich hinter sich bringen. Plötzlich löste sich aus dem Hauseingang vor ihr eine Gestalt. Es war ein Mann, ein wenig größer als Jolin, schlank und dunkel gekleidet. Er trug einen Mantel, der die gleiche Länge hatte wie der von Rouben, und im ersten Augenblick dachte Jolin auch, er wäre es. Doch er beachtete sie nicht, sondern wandte sich ab und lief eilig vor ihr her in dieselbe Richtung wie sie. Im Laufen zog er einen Hut hervor, setzte ihn auf und eilte weiter.
    Jolin stoppte und starrte ihm einige Sekunden hinterher. Und dann, so als ob jemand einen Schalter in ihr umgelegt hätte, änderte sie ihren Plan.
     
    Jolin nahm den Bus bis zum Hauptbahnhof. Dort stieg sie in die Straßenbahnlinie 654, die in ihre alte Heimat zum nordöstlichen Stadtrand hinausfuhr. Knapp zweieinhalb Jahre hatten sie dort in einer Sozialbausiedlung gewohnt, genau die Zeit über, in der Gunnar Johansson arbeitslos gewesen war. Damals hatte das Amt ihre Stadtwohnung für drei Komma null vier Quadratmeter zu groß befunden und den Mietzuschuss verweigert. Gunnar und Paula Johansson waren gezwungen gewesen, in die Nordstadt zu ziehen, und Jolin hatte gut zwei Jahre mit der 654er zum Albert Schweitzer-Gymnasium fahren müssen. Nachmittags hatte sie mit den Kindern der Siedlung auf lieblos errichteten Spielplätzen, verdorrten Wiesen und zertretenem Grün voller Abfällen gespielt.
    Die Wohnung war sehr viel kleiner gewesen als jene in der Stadt, Jolin hatte kein eigenes Zimmer mehr gehabt, sondern lediglich eine abgetrennte Spielecke im Schlafzimmer ihrer Eltern. Trotzdem hatte sie sich hier freier gefühlt. Die heruntergekommenen, grauen Wohnklötze, die bis zu den Fenstersimsen des ersten Stockwerks mit Graffitis beschmiert waren, und die trostlose Umgebung hatten sie nicht gestört, solange Paula und Gunnar sie herumlaufen ließen und Jolin die Nachmittage und das Wochenende verbringen konnte, wie sie wollte.
    Manchmal war sie bis zu den Containern gelaufen. Es hatte

Weitere Kostenlose Bücher