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Vollmondkuss

Titel: Vollmondkuss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patricia Schroeder
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handeln müsstest. Das hast du mir selber gesagt. Warum also hältst du dich im umgekehrten Fall nicht daran? Offenbar verstand Paula diesen Blick zu deuten. »Du hast ja recht«, gab sie zu. »Für eine Mutter ist es nur manchmal nicht ganz einfach.«
    »Jolin weiß schon, was gut für sie ist«, stand Gunnar seiner Tochter zur Seite. Er hob die Plastiktüte an und schwenkte sie sanft hin und her. »Und ich weiß, was das Beste für unseren kleinen toten Freund ist.« Er nickte Paula und Jolin zu und stapfte aus der Küche. Als wenige Sekunden darauf die Wohnungstür zuschlug, fasste Jolin einen Entschluss.
    Sie schlief sehr spät ein, später als sonst, und schreckte hoch, als der Wecker piepte. Es war kurz vor halb sechs, viel zu früh für eine Nachteule wie sie, aber es ging nicht anders. Im Moment hatte Jolin auch noch keine wirklich gute Idee, wie sie ihrer Mutter ihr frühes Verschwinden erklären sollte, am besten war es wohl, wenn sie ihr einen Zettel hinlegte. Sie schlüpfte in ihre Sachen, bürstete sich notdürftig die Haare und fasste sie im Nacken zusammen.
    Auf ihrem Schreibtisch fand sie eine Karte, auf der eine große Tomate abgebildet war.
     
    Hallo Ma,
    bin heute schon eine Stunde früher aus dem Haus, weil ich noch mit zwei Stufenkameraden eine Ausarbeitung machen muss. Sorry, hab ich gestern vergessen, dir zu sagen.
    Jolin
     
    schrieb sie darauf. Anschließend ordnete sie Kissen und Bettdecke und legte den Überwurf darüber. Sie tappte in den dunklen Flur, legte die Karte auf das Telefontischchen und tastete nach ihrem Steppmantel, dem Schal und den Schuhen. Langsam zog Jolin die Wohnungstür zu, die leise schnackend ins Schloss fiel. Sie umklammerte ihren Schlüsselbund, während sie die Treppen bis in den Keller hinunterlief. Erst dort drückte sie auf den Lichtschalter, bückte sich, um sich die Schuhe zuzubinden, und eilte dann weiter bis zu ihrem Kellergitter. Jolin entriegelte das Vorhängeschloss und sah als Erstes in der alten Campingkiste nach, aber dort war der kleine Klappspaten nicht mehr. Wahrscheinlich hatte Gunnar ihn im Frühjahr mit nach Norwegen genommen, als er sich dort mit seinen alten Schulkameraden zum Wandern getroffen hatte. Aber wo, zum Teufel, hatte er das Ding anschließend hingetan? Hoffentlich nicht verschenkt, dachte Jolin. Schließlich wollte sie die Fledermaus nicht mit blanken Händen begraben. Abgesehen davon, dass die Erde sich bis tief unter ihre Fingernägel setzen würde, war der Boden viel zu hart.
    Suchend drehte Jolin sich einmal um sich selbst. Vielleicht in der Werkzeugkiste? Oder im alten Kleiderschrank? - Wohl kaum. Denn der war ausschließlich Paula für ausrangierte Bücher, Tischdecken, Kissenbezüge und Zeitschriften Vorbehalten. Jolin ließ ihren Blick über seine grün gebeizten Türen wandern, und da sah sie ihn. Seine leicht verbogene rote Spitze ragte zwischen zwei in Müllsäcke gehüllten Koffern hervor, die auf dem Kleiderschrank lagen. Jolin hob sich auf die Zehenspitzen und zog den Spaten hervor. Sie klemmte ihn unter ihre Achsel, drückte die Gittertür auf und verschloss den Keller wieder.
    Die Mülltonnen befanden sich am anderen Ende des Ganges in einer kleinen Nische neben dem Heizungsraum. Das Licht ging aus, und Jolin musste ein paar Schritte im Dunkeln weiterlaufen, ehe sie den nächsten Schalter erreichte. Plötzlich ertönte aus der Nische ein Rascheln, und in dem Moment, als die Neonröhre über ihr aufflackerte, glaubte Jolin einen Schatten zu sehen, der in den Heizungsraum huschte. Sie stoppte und starrte mit angehaltenem Atem auf das Ende des Ganges. Die Nische
    konnte man von ihrem Standort aus nicht einsehen, und vom Heizungsraum war nichts als ein dunkles Rechteck zu erkennen, das die offen stehende Tür freigab.
    »Hallo?«, rief Jolin leise. »Ist da jemand?« Ihre Stimme klang rau, fast heiser vor Anspannung.
    Niemand antwortete.
    Jolin wartete einige Sekunden, dann tappte sie langsam weiter, den Blick ununterbrochen auf das dunkle Recht-eck gerichtet. Vielleicht hatte sie sich ja getäuscht. Vielleicht war es auch nur eine Ratte gewesen. Jolin schauderte trotzdem bei diesem Gedanken. Einen Augenblick überlegte sie, einfach umzukehren, hinauf in die Wohnung zurückzulaufen und sich ins warme Bett zu kuscheln. Der Gedanke war verlockend, aber Jolin verbannte ihn entschieden aus ihrem Kopf. Die Fledermaus durfte nicht hier, nicht im Haus bleiben. Sie musste begraben werden. Es war unvernünftig und absurd, und doch

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