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Vollmondkuss

Titel: Vollmondkuss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patricia Schroeder
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derartige Nebensächlichkeiten den Kopf zu zerbrechen! Was interessierte sie, welche Gedanken Leonhart, Klarisse, Rebekka, Susanne oder Melanie sich über sie, Rouben oder sonst wen machten? Hatte sie im Augenblick nicht ganz andere, viel schwerwiegendere Probleme?
    Es braucht dich nicht zu kümmern, ob und auf welche Weise Rouben dich mag, Jolin, sagte sie sich. Nicht, solange du nicht weißt, wer er überhaupt ist. Denk an heute Morgen, denk an den Schatten im Keller, den Typen mit dem Lederhut, den Mann auf dem Bahnsteig, der so plötzlich verschwand, denk an die tote Fledermaus und an Harro Greims. Das ist keine gewöhnliche Fledermaus, hatte er gesagt. Das ist ein Vampir, hatte er damit sagen wollen. Jolin spürte, wie sich die feinen Härchen auf ihren Unterarmen aufstellten. Hatte er das wirklich so gemeint? - Natürlich hatte er das. Zumindest hatte sie es so verstanden. Sonst wäre sie doch nicht gleich anschließend ins Antiquariat gegangen, um das Buch zu holen. Dieses Buch, das immer noch dort gewesen war, fast so, als ob es auf sie gewartet hätte. Selbst für Herrn Lechtewink schien es das Selbstverständlichste auf der Welt gewesen zu sein, dass sie es sich zurückholte. Jolin sah es wieder genau vor sich, sie sah, wie er ihr das Buch hinhielt, sie sah die kleinen kreisrunden Wunden auf seiner Hand, und sie wusste, dass Herr Lechtewink sie angelogen hatte. Nie und nimmer hätte ein Hund so sauber zugebissen!
    Mit zitternden Fingern hob Jolin die Tasse an ihre Lippen und trank hastig einen großen Schluck, so als ob der heiße Tee die Kälte, die ihr gerade in die Knochen gekrochen war, fortspülen könnte.
    Was würde Rouben wohl sagen, wenn sie ihm eröffnete, dass sie nun doch nicht mit ihm auf Klarisses Party gehen wollte?
     
    Jolin schob es bis zum Ende des Schultages hinaus. In den Unterrichtsstunden saß Rouben schweigend neben ihr, in den Pausen verschwand er und ließ sie in Ruhe, sodass sie bereits den Eindruck hatte, er würde ihren Unmut, ihre Angst und ihre Zerrissenheit mit feinen Antennen auf-nehmen. Sensibel war er, daran zweifelte sie nicht. Aber was war das für eine Sensibilität? - Das emotionale Feingefühl eines Menschen oder der Instinkt eines Tieres? Beides wollte nicht so recht zu seiner Geruchslosigkeit passen. Sowohl Menschen als auch Tiere setzten Duftmarken. Nein! Jolin sträubte sich, diesen Gedanken zu Ende und damit immer in dieselbe Richtung zu denken. Mit aller Macht riss sie ihr Bewusstsein ins Hier und Jetzt zurück und versuchte, dem Deutschunterricht zu folgen. Die Uniwoche im Januar stand bevor, sie würde sich noch vor den Weihnachtsferien auf ein Thema für ihre Facharbeit festlegen müssen. Darauf sollte sie sich konzentrieren, das würde sie ablenken. Und wenn sie Rouben erst deutlich gemacht hatte, dass sie nichts mit ihm zu tun haben wollte, dann war der ganze Spuk vielleicht schon bald vorbei.
    »Jolin«, sagte Frau Hennigs, als der Gong ertönte. »Würden Sie bitte kurz zu mir kommen, bevor Sie in die Pause gehen?«
    Jolin blickte die Kursleiterin verwundert an. Sie konnte sich nicht so recht vorstellen, worüber die Hennigs mit ihr reden wollte. Über die Facharbeit vielleicht? Zügig packte sie ihre Sachen zusammen, streifte den Mantel über und ging zum Lehrertisch.
    »Einen Moment, wo hab ich es denn ...?« Die kleine Frau mit den kurzen dunklen Haaren und den großen hellgrauen Augen sichtete die Unterlagen in ihrer braunen Lederkladde. »Ach ja, hier!« Sie zog einen DIN-A Bogen hervor und reichte ihn Jolin. »Ihr neuer Stundenplan.«
    Jolin stieß ein kurzes überraschtes Lachen aus. »Das muss ein Missverständnis sein«, sagte sie und gab der Deutschlehrerin den Zettel zurück.
    Frau Hennigs sah Jolin erstaunt an. »Aber Sie wollten doch wechseln. Von Biologie zu Geschichte ...«
    »Ja ... Nein!« Jolin schüttelte den Kopf. »Ich habe zwar mit einem Stufenkameraden darüber gesprochen, aber ...«
    »Rouben Varescu?«, fragte Frau Hennigs.
    »Ja, wieso?«
    »Weil er ebenfalls wechselt.«
    Na klar! Na logisch! Rouben hatte das alles in die Wege geleitet. Innerhalb eines einzigen Vormittags war ihm gelungen, was bisher noch keiner geschafft hatte, schon gar nicht mitten im Schulhalbjahr: den GK zu wechseln und noch dazu eine Kursteilnehmerin mitzunehmen.
    Offenbar machte Jolin einen ziemlich entgeisterten Eindruck, denn Frau Hennigs blickte sie nun durchdringend an. »Ist etwas nicht in Ordnung? Wollten Sie gar nicht in den

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