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Vollmondkuss

Titel: Vollmondkuss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patricia Schroeder
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und eine Zigarette im Mundwinkel hatte, schüttelte den Kopf, was offensichtlich als Bestätigung gemeint war. »Den hamse abgeholt, den Harro«, sagte er, fing an zu husten und rieb sich den Zigarettenqualm aus dem Auge.
    »Abgeholt ...?«, hauchte Jolin. »Wer hat ihn abgeholt? Und wieso?« Sie blickte von einem zum anderen. Der Junge, ein Araber, stand einfach so da, kratzte sich am Knie und guckte.
    Jolin hielt die Anspannung kaum noch aus. »Jetzt reden Sie doch endlich!«
    Die Frau nickte. Sie musterte Jolin vom Kopf bis zu den Schuhspitzen. »Du bist wohl seine Kleine, wie? Die Jolin.«
    »Ja, wieso?«
    Der Mann nahm einen Zug aus seiner Zigarette. »Weil er immer viel von dir erzählt hat, der Harro. Wegen früher und so.«
    »Da waren wir ja noch gar nich hier«, sagte die Frau. Sie zurrte den Mantel fest über ihrer Brust zusammen und verschränkte fröstelnd die Arme. Jolin sah, dass der Mantel keine Knöpfe hatte.
    »Was hat er Ihnen denn erzählt?«, fragte sie ungeduldig.
    »Zuerst hatter immer gesacht, dassde seine Tochter bist«, sagte der Mann und blinzelte. Jolin konnte nicht erkennen, ob es ihr galt oder ob ihm nur wieder Zigarettenrauch ins Auge gestiegen war.
    Die Frau bedachte ihn mit einem skeptischen Blick. »Ich hab das ja von Anfang an nich geglaubt«, meinte sie. »Ne Tochter ... Der war doch nie verliebt gewesen, der Harro. Zumindest hatter das nie erzählt.«
    »Und ’n bisschen Liebe gehört ja dazu, oder?«, sagte der Mann. Er lächelte und kniff seiner Frau sanft in die Wange. »Oder?«
    »Doch«, sagte Jolin. »Er ist verliebt gewesen. In eine Frau, die er in Rumänien kennengelernt hat. Vielleicht erinnern Sie sich ja doch ...« Erwartungsvoll nickte sie den beiden zu. Plötzlich keimte die Hoffnung in ihr auf, zumindest von dem Ehepaar vielleicht noch etwas erfahren zu können, was wichtig war und was Harro Greims ihr damals nicht erzählt hatte.
    Doch der Mann schob nur anerkennend die Unterlippe vor, und die Frau sagte: »In Romänien, soso. Dann kann das ja doch gestimmt haben mit der Tochter.«
    »Nein«, sagte Jolin aufgebracht. »Das hat nicht gestimmt. Ich bin nicht seine Tochter.« Sie drehte sich um und deutete auf die Häuserblocks hinter sich. »Ich hab da mal gewohnt, als ich noch ein Kind war. Ich hatte keine richtigen Freunde, nur den Harro Greims. Er hat mir immer Geschichten erzählt«, fügte sie etwas ruhiger hinzu.
    »Ja, ja.« Der Mann lächelte wieder. »Das konnte er gut.« Er nahm die Zigarette, die inzwischen bis zum Filter heruntergebrannt war, aus dem Mund, warf sie auf den Boden und trat sie aus.
    Die Frau blickte missbilligend auf seinen Fuß. »Ich sag doch, du sollst nich so viel rauchen. Und das hier ist schließlich das Grundstück vom Harro.«
    »Ja, ja«, sagte der Mann. »Der is ja nu nich mehr da.«
    »Wo ist er denn überhaupt?« Jolin fasste die Frau am Ärmel ihres grünen Tweedmantels. »Sagen Sie mir doch bitte endlich, wer ihn abgeholt hat!«
    Die Frau zog ihren Arm zurück. »Der Notarztwagen natürlich.«
    In Jolin krampfte sich alles zusammen. Es war nun kein Schreck mehr, sondern einfach nur noch Angst und wie-der diese schreckliche dumpfe Ahnung. »Was war denn mit ihm?«, fragte sie rau. »Hatte er einen Herzanfall? Oder ...?
    »Nein, das war kein Herzanfall«, sagte der Mann. »Der is einfach durchgedreht, der Harro. Komplett durchgedreht. Hat geschrien und um sich geschlagen. Es ging nich anders. Jemand musste was machen.«
    »Sie haben den Notarzt gerufen?«, fragte Jolin. »Sie waren das?«
    Die Frau nickte. »Mein Mann hat doch das Handy. Niemand hier konnte telefonieren. Und der Notruf kostet ja nix.«
    »Okay«, sagte Jolin. Sie war erleichtert, weil Harro Greims offensichtlich nichts Ernsthaftes zugestoßen war. Er lebte noch, er war einfach nur ausgerastet. - Nur? Für einen Moment lebte das Bild in ihr auf, wie sie vor gut fünf Jahren das erste Mal zur Containersiedlung gelaufen war. Jolin hatte damals eine Taube verfolgt, die sie mit hart gewordenen Brotkrumen zu füttern versuchte. Ihr selbst war der buntbemalte Container da noch nicht aufgefallen, aber Harro Greims hatte sie wohl beobachtet, denn als sie ihn einige Tage später schließlich kennen-lernte, hatte er Jolin über Tauben erzählt. Einfach so. Über Tauben und andere Vögel. Und über Insekten. Mit allem, was Flügel hatte, kannte er sich aus. Am besten mit Fledermäusen. Neben der Traurigkeit, die immer mitschwang, war eine tiefe Ruhe von ihm ausgegangen.

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