Vollmondkuss
sie sich beim Aufstehen an der Containerwand ab. »Wissen Sie, in welche Klinik sie Harro gebracht haben?«
Die Frau nickte. »In die Landesklinik natürlich. Da, wo se alle hinbringen. Auf die Geschlossene.«
»Sind Sie sicher?«
Die Frau zuckte die Achseln. »Du kannst ja anrufen und dich erkundigen«, sagte sie und wandte sich zu ihrem Mann um, der nun mit einem Handy in der Hand an gelaufen kam.
»O ja, das wäre nett«, sagte Jolin und wollte nach dem Handy greifen. »Meine Akkus sind leer, und ich ...«
»Aber das is kein Notruf«, sagte die Frau. »Das is richtig teuer.«
Jolin nickte. Sie holte ihre Geldbörse hervor und drückte der Frau einen Zehn-Euroschein in die Hand.
»Aber das geht nicht«, sagte die Frau. Sie wollte Jolin den Schein zurückgeben, doch die hatte das Handy bereits genommen und wählte die Auskunft an. Weil sie keinen Stift hatte, musste sie sich die Nummer der Klinik merken. »Drei, eins, eins, sieben, acht, sechs, null ...«, murmelte sie, während sie die Tasten drückte. Nachdem es zweimal geklingelt hatte, meldete sich die Zentrale der Landesklinik. Jolin räusperte sich und erkundigte sich nach Harro Greims.
»Ja ... Herr Greims wurde gestern eingeliefert. Sind Sie mit ihm verwandt?«
»Nein«, sagte Jolin.
»Ja, da kann ich Ihnen dann leider keine weitere Auskunft geben.«
»Ich möchte ihn besuchen«, sagte Jolin. »Könnte ich ...?«
»Das geht leider nicht«, unterbrach sie die Männer-stimme am anderen Ende. »Herr Greims empfängt keinen Besuch. Niemanden.«
»Will er nicht, oder ...« ... kann er nicht?, wollte Jolin noch fragen, da klackte es bereits in der Leitung.
»Das is alles nich so einfach, Kindchen«, sagte die Frau und starrte auf den Geldschein.
»Ich weiß«, murmelte Jolin. »Ich weiß.« Sie gab dem Mann das Handy zurück, nickte den beiden noch einmal zu und machte sich auf den Rückweg. Ihre Knie waren weich und zittrig, und ihr Rücken schmerzte. Als sie an Harro Greims’ Container vorbeikam, blieb sie unvermittelt stehen und fixierte die Stelle, an der sie die Fledermaus begraben hatte. »Bist du noch da?«, fragte sie beklommen. »Hast du Helma getötet? Bist du das gewesen?«
Antworten auf diese Fragen erhoffte Jolin sich nun endgültig von dem Buch. Als sie in der Straßenbahn saß und in die Stadt zurückfuhr, zog sie es aus ihrer Tasche. Flüchtig fuhr sie mit den Fingerkuppen über den samtigen Einband, dann schlug sie es auf. Jolin überflog die ersten Seiten und stellte fest, dass sie sich noch gut an den Inhalt entsann. Schließlich hatte sie sehr langsam, manche Seiten sogar zwei- oder dreimal gelesen, und so fiel es ihr nicht schwer, sich die Geschichte um den Vampir Victor und die Baronesse, die heimlich einen Bürgerlichen traf, ins Gedächtnis zurückzurufen. Der Bürgerliche war der Sohn eines Uhrmachers, sehr hübsch, sehr schüchtern und sehr verliebt. Die Baronesse erwiderte seine Liebe nicht, sie fühlte sich geschmeichelt und traf ihn nur, um sich an seinen schmachtenden Blicken zu weiden, und sie merkte nicht, dass sie dabei von Viktor beobachtet wurde. Heimlich spielte er ihr Gegenstände zu, die seiner dunklen Energie Einlass in ihre Gemächer gewährten. Durch die Spuren, die die Liebe des Uhrmachers hinterließen, konnte Viktor zu jedem Zeitpunkt nachvollziehen, wo die Baronesse sich befand, was äußerst wichtig für ihn war, da er sich tagsüber in seinen Tierkörper zurückziehen und schlafen musste.
Was hast du vor, Viktor?, dachte Jolin und ließ die Seiten durch ihre Finger gleiten. Sie hatte keine Lust, den ganzen Roman zu lesen, das würde Tage dauern, aber sie brauchte ihre Antworten jetzt. Heute. Wie sieht dein Tierkörper aus, Viktor? - Wie eine Fledermaus? Jolin schlug eine x-beliebige Seite auf und ließ ihren Zeigefinger über die Zeilen gleiten. Keine Fledermaus. Auch auf der nächsten Seite kein Wort darüber. Sie würde eine Stelle finden müssen, die beschrieb, wie eine Nacht zu Ende ging. Ungeduldig blätterte Jolin weiter. Mittagessen im Schloss. Ministerkonferenzen. Besuch des Uhrmachers. Ein weiteres heimliches Treffen. In der Nacht sitzt Viktor am Bett der Baronesse und betrachtet sie. Er könnte ihr Blut saugen, tut es aber nicht, sondern denkt über die Schande nach, die seine Großtante über seine Familie gebracht hat. Und über die Sehnsucht, die die ewig Untoten nach einem Leben im Sonnenlicht quält, eine Sehnsucht, die auch Viktors Herz erfüllt und sein Handeln bestimmt. Die
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