Vollmondkuss
Jolin konnte sich kaum vorstellen, dass ein solcher Mensch jemals ausrastete.
»Wo ist er denn jetzt?«, fragte sie und bemühte sich, nicht gleich wieder die Geduld zu verlieren. Das Ehepaar kostete ganz offensichtlich jede einzelne Minute aus, in der es mit ihr zusammenstand und erzählen durfte. Jolin konnte das nur zu gut verstehen. Noch von damals wusste sie, dass sich kaum einmal ein sogenannter normaler Mensch aus der leistungsfähigen Mitte der Gesellschaft hierher verirrte. Für die beiden Leutchen war sie so etwas wie eine kleine Sensation und der Umstand, dass einer ihrer Nachbarn im Notarztwagen hatte wegtransportiert werden müssen, dagegen wohl eine mehr oder weniger alltägliche Angelegenheit. Trotzdem musste Jolin nun endlich wissen, was passiert war. »In welches Krankenhaus haben sie ihn gebracht?«, fragte sie drängend. »Und wo ist Helma? Wo ist sein Hund?«
»Der Hund ist tot«, sagte der Mann.
»Tot?« Jolins Puls schnellte in die Höhe. Unwillkürlich musste sie an den Streuner denken, der vor einigen Tagen mit Bissspuren am Hals im Stadtpark gefunden worden war. Der Gedanke, dass der quirligen kleinen Helma womöglich etwas Ähnliches zugestoßen war, trieb ihr die Tränen in die Augen.
»Deswegen is das alles ja überhaupt passiert«, fuhr der Mann fort und blickte seine Frau nach Bestätigung heischend an.
»Aber ...?«, stammelte Jolin. Auch das konnte für Harro Greims kein Grund gewesen sein, um sich zu schlagen. Natürlich hatte er an der zotteligen grauen Hündin gehangen, sie war sein Ein und Alles gewesen. Natürlich hätte er um sie geweint und wohl in ähnlich stiller Weise um sie getrauert wie um Ramalia, aber doch nicht getobt. »Ich verstehe das nicht«, brach es aus ihr hervor. »Harro war immer so ruhig.«
Die Frau und der Mann nickten.
»Zuerst war Helma nur verschwunden«, sagte die Frau. »Harro hatse überall gesucht.«
»Und dann lag der Hund da!«, schrie der Junge plötzlich und zeigte auf Jolins Füße. »Genau da! Tot.« Er machte mit der Handkante eine schnelle Bewegung vor seinem Hals. »Und dann hat er ihn aufgeschnitten.«
»Harro Greims hat Helma den Hals aufgeschnitten?« Entsetzt wich Jolin einen Schritt zurück. »Weshalb denn das?«
Der Junge zuckte die Achseln. »Keine Ahnung. Er hat den Hund total aufgeschlitzt«, keifte er. »Vom Hals herunter bis zu den Hinterbeinen. Aber da war kein Blut. Vorne nicht, hinten auch nicht.«
»Schrei doch nicht so«, sagte die Frau. »Es is ja vorbei. Helma is wech. Und Harro auch. Sie kommen nich mehr wieder. Und das is auch gut so.«
Jolin starrte auf den Fleck vor ihren Füßen und spürte einen schrecklichen Schmerz in der Brust, der ihr die Luft nahm. »Wissen Sie, wo er Helma begraben hat?«, fragte sie nach Atem ringend.
»Nee«, sagte der Mann. »Er hat sie einfach weggetragen. Weit weg. Es hat Stunden gedauert, bis er wieder zurückkam. Dann hat er hinter seinem Haus diese Asche gefunden. Er hat gebrüllt und geflucht und geschrien. Und dann ist er in seine Bude und hat alles kurz und klein geschlagen.«
Der Schmerz in Jolins Brust wurde so stark, dass sie zurücktaumelte. Ich bin schuld, hämmerte es in ihrem Schädel. Ich habe die Fledermaus hier begraben, ich habe Helma getötet und Harro Greims in die Nervenklinik gebracht. Ich ... ich ... ich ...
Sie spürte noch, wie sie fiel. Jolin schlug hart auf dem Boden auf. Danach war alles dunkel und still.
»Wach auf, Kindchen!«, hörte sie jemanden rufen. Es war eine Frauenstimme, die ihr bekannt vorkam. Jemand klopfte ihr auf die Wange, und in ihre Nase bohrte sich ein beißender Geruch. Jolin riss die Augen auf. »W-was ist?«
Über ihr war das Gesicht der Frau. Eine dünne schwärze Strähne fiel ihr über die Augen. »Du bist umgekippt, Kindchen, einfach umgekippt.« Jolin stöhnte. Ihr Rücken schmerzte, und ihr Nacken fühlte sich seltsam steif an. »Mein Mann holt sein Handy. Er ruft den Notarzt«, sagte die Frau. Stolz schwang in ihrer Stimme, und ihre stumpfen, graugrünen Augen leuchteten.
»Nein, nein«, sagte Jolin. Sie setzte sich auf und drehte vorsichtig den Kopf hin und her. Es tat weh, aber es ging ohne Weiteres. »Bitte, helfen Sie mir hoch«, bat sie die Frau und fasste nach deren Hand.
»Es ist bestimmt besser, Kindchen, wenn du dich untersuchen lässt«, erwiderte die Frau.
»Ich will nicht ins Krankenhaus«, erwiderte Jolin, während sie sich auf die Knie drehte. Sie spürte einen leichten Schwindel, und deshalb stützte
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