Vollmondkuss
Falafel und biss verlegen hinein. Sie wagte es nicht, Rouben anzusehen, zu groß war die Befürchtung, etwas Ordinäres an ihm zu entdecken, und noch größer ihre Angst, dass sein Blick letztendlich an Carinas Hals hängen bleiben und damit ihrer schwelenden Ahnung neue Nahrung geben könnte.
»Also, ich muss gestehen, dass du mir nicht ganz geheuer bist«, sagte Leonhart frei von der Leber weg. »Du redest mit niemandem. Keiner weiß, was in dir vorgeht. Du umhüllst dich mit diesen edlen schwarzen Klamotten, dazu deine bleiche Haut... Fast wie ein Vampir.« Er lachte ein wenig verunglückt.
»Natürlich«, sagte Rouben leichthin. »Ein Vampir. Logisch. Dass ich nicht längst selbst darauf gekommen bin! Deshalb wandle ich ja auch immer nur nachts unter euch und meide das Sonnenlicht, wo ich nur kann.«
Jolin schob sich den Rest der Falafel in den Mund und atmete tief durch. Sie war geradezu erleichtert über ihre Dummheit. Wäre Rouben tatsächlich ein Vampir, er hätte unmöglich zur Schule gehen können. Es sei denn, diese Wesen umgab Geheimnisse, die den Menschen bisher noch nicht bekannt geworden waren. Unwillkürlich dachte Jolin an die tote Fledermaus und die seltsamen Andeutungen, die Harro Greims gemacht hatte, doch sie wischte diese beklemmenden Erinnerungen sogleich beiseite. Nicht noch einmal wollte sie zulassen, dass diese törichten Hirngespinste ihr den Verstand umnebelten. Die Geschichten, die sich um Vampire rankten, waren Legenden. Sie hatten nichts, aber auch gar nichts mit der Wirklichkeit zu tun. Wahrscheinlich waren sie genau aus dem Grund entstanden, weil es immer wieder Menschen wie Rouben gegeben hatte, die ungreifbar und damit in gewisser Hinsicht auch unheimlich waren.
»Ich gebe zu, das war ein blöder Scherz«, sagte Leonhart, und Carina lachte hell. Danach herrschte einen Moment Schweigen, und Jolin bemerkte, dass fast alle ihre Mitschüler verstohlen zu ihnen herüberstarrten. Auch Anna. Plötzlich löste sie sich aus der Menge und trat auf Rouben zu. »Magst du vielleicht tanzen?«
Jolin hob die Augenbrauen, doch Anna achtete gar nicht auf sie.
»Vielen Dank«, sagte Rouben. »Aber das ist nicht meine Musik.«
»Oh«, sagte Anna. »Was hörst du denn so? Ich meine, ich könnte den DJ ja bitten, etwas aufzulegen, das dir gefällt.«
»Etwas Altes«, sagte Rouben.
Anna nickte abwartend.
»Etwas Langsames«, sagte Rouben.
»Jaa ...?«
»Led Zeppelin oder Black Sabbath vielleicht.«
»Stairway to heaven?«
Rouben nickte. »Ja, warum nicht.«
»Okay, ich frag ihn«, sagte Anna, drehte sich um und quetschte sich zum Schallplattentresen durch.
»Stairway to heaven?«, wiederholte Leonhart und grinste. »Nein, du kannst wirklich kein Vampir sein. Mag sein, dass sie das Licht austricksen, aber danach, in den Himmel zu kommen, sehnen sie sich garantiert nicht.«
»Du musst es ja wissen«, sagte Rouben.
In diesem Moment ließ der DJ die Madonna-Single ausklingen, und die ersten Takte von Stairway to Heaven erfüllten den Partykeller. Rouben berührte Jolins Arm. »Magst du?«
Sie sah ihn überrascht an. »Ich?«
»Klar. Ich bin mit dir hergekommen, also tanze ich auch mit dir«, sagte Rouben.
»Und was ist mit Anna?«, fragte Jolin.
»Sie hätte es wissen müssen«, sagte Rouben, legte seinen Arm um ihre Schulter und zog sie in die Mitte des Raumes. Jolin war wie in Trance. Sie spürte Roubens Hände auf ihrem Rücken, die zunächst kühl waren, jedoch rasch mit ihrer eigenen Körperwärme verschmolzen. Sanft berührte sie mit den Fingerspitzen seinen Pulli, dessen weiche Wolle sich beinahe wie ein Streicheln anfühlte. Die Muskeln, die sich darunter bewegten, erahnte sie nur. Wie gerne hätte sie jetzt die Augen geschlossen und den Kopf auf seine Schulter gelegt, aber das traute sie sich nicht.
»Warum bist du so scheu?«, fragte Rouben leise an ihrem Ohr. »Es ist doch nur ein Tanz.«
Beinahe hätte Jolin sich losgemacht und laut herausgelacht. Dass ausgerechnet er so etwas sagte, wo er doch sonst immer so kühl und distanziert war! Aber vielleicht wollte er den anderen etwas demonstrieren. Womöglich benutzte er sie nur, um den Mädchen im Raum zu signalisieren: Ich bin nicht zu haben. Sie, Jolin, wollte er natürlich auch nicht. Oder doch? - Nein, dies hier war schließlich nur ein Tanz, genau so hatte er sich ausgedrückt. Nur ein Tanz. Na, dann war es ja nicht so schlimm. Da konnte man sich ja ruhig ein bisschen aneinander schmiegen und so tun als ob ... Mit einem
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