Vollmondkuss
spinnst!«
»Wenn du meinst.« Rouben lehnte sich zurück und wandte den Blick ab.
»Halt an!«, kreischte Jolin. Angst und Wut machten sich gleichermaßen stark in ihrer Brust. »Wenn du nicht sofort ...!«
»Bitte halt an«, sagte Rouben ruhig.
Der Fahrer wandte den Kopf nach hinten. »Hier?«
»Ja, hier.«
Der Citroen stoppte in zweiter Reihe direkt neben einem dunkelblauen Lada, der ihr bisher noch nie hier aufgefallen war. Jolin konnte ihr Haus schon sehen. Sie tastete nach dem Türöffner.
»Warum lässt du dich nicht bis vor den Eingang fahren?«, fragte Rouben.
»Weil ich dir nicht traue.«
Rouben nahm das Armband vom Sitz und betrachtete die blauen Steine, die im Licht der Straßenlaternen geheimnisvoll funkelten. »Schade«, sagte er. »Und bitte sieh dich vor.«
»Hast du etwa Angst um mich?«, erwiderte Jolin spöttisch.
Rouben sah sie an. Sein Blick war weder warm noch kalt. »Sieh dich einfach vor, okay?«
»Wichtigtuer«, murmelte Jolin, während sie sich aus dem Wagen wandt.
»Was hast du gesagt?«
»Nichts«, sagte Jolin. Sie schlug die Tür mit einem Knall zu und huschte hinter dem Lada auf den Bürgersteig. Der schwarze C6 beschleunigte und glitt langsam davon.
»Ich hoffe, du hast kapiert«, sagte Jolin leise. »Ich lege keinen Wert mehr auf deine Begleitung. Ab morgen fahre ich wieder alleine mit der U-Bahn. Ist das klar?« Sie schloss den Reißverschluss ihres Steppmantels bis unters Kinn und zog den Hals ein. Die Luft war feucht und kalt, die Gehwegplatten unter Jolins Sohlen schillerten. Vorsichtig setzte sie einen Fuß vor den anderen, damit sie nicht ausrutschte. Sieh dich vor, hatte Rouben gesagt. Ob er damit das vereiste Pflaster gemeint hatte? - Egal. Was interessierte sie das noch? Rouben war entlarvt, er hatte seinen Reiz verloren. Bei dem Gedanken daran, dass sie ihn beinahe für einen Vampir gehalten hatte, hätte Jolin fast laut herausgelacht. Wie bescheuert sie doch gewesen war! Aber das lag ja nun Gott sei Dank hinter ihr. Nur noch dreißig Meter und vier Hauseingänge, und sie war daheim und würde nie wieder zulassen, dass die Phantasie mit ihr durchging und sie sich Dinge einbildete, die nicht existierten, gar nicht existieren konnten. Die Zeit mit Harro Greims lag hinter ihr. Sie würde diesen Verrückten nie Wiedersehen. Ja, wahrscheinlich war er schon immer ein bisschen durchgeknallt gewesen und der Umstand, dass er inzwischen in der Landesklinik gelandet war, nicht ungewöhnlich, sondern nur konsequent. Noch knapp zwanzig Meter und zwei Hauseingänge und Jolin würde diesen unseligen Abend abstreifen wie eine zu eng gewordene Haut. Noch fünfzehn Meter und ein Hauseingang, doch dann urplötzlich, von einer Sekunde auf die nächste, schlug ihr eine derartige Kälte entgegen, dass ihr der Atem wegblieb. Ein beißender Schmerz durchfuhr ihre Lunge. Jolin blieb wie angewurzelt stehen. Die Haustür der Nummer 64 stand einen Spaltbreit offen, und die Kälte schien genau aus diesem Spalt zu strömen. Jolin hielt den Atem an und zwang sich weiterzugehen. Wenn sie rannte, würde sie sich innerhalb weniger Sekunden in ihren eigenen Eingang retten können. Die Gefahr, auf dem spiegelglatten Pflaster auszugleiten und hinzufallen, war jedoch groß. Und wer wusste schon, was passierte, wenn sie erst einmal am Boden lag. Nein! Den Blick fest auf die angelehnte Haustür geheftet, ging sie langsam Schritt für Schritt weiter, und just in dem Augenblick, als sie an ihr vorbei war, bemerkte sie einen riesenhaften schwarzen Schatten hinter dem geriffelten Glas.
Jolin wollte schreien, doch die kalte Luft nahm ihr so nachhaltig den Atem, dass nichts weiter als ein leises Röcheln aus ihrer Kehle drang. Im nächsten Moment ertönte ein Geräusch - das Öffnen einer Tür! -, und zwei Sekunden später trat Gunnar Johansson auf den Bürgersteig.
»Pa!«
Es war nur ein Hauch. Jolin rutschte aus und fiel.
»Jolin!« Gunnar war sofort bei ihr, fasste sie unter dem Arm und zog sie in die Höhe. »Hast du dir wehgetan?« Er klang so besorgt wie früher, als sie noch ein kleines Mädchen gewesen und von einem Klettergerüst gestürzt war.
»Nein, nein, es geht schon.« Leise stöhnend umklammerte Jolin sein Handgelenk. »Ich bin einfach zu schnell gelaufen.« Gunnar blickte sie prüfend an, dann nickte er.
»Was machst du denn hier? Ich denke, du bist auf einer Party.«
»Die Party ist langweilig«, sagte Jolin. Sie ließ ihn los und strich ihren Mantel glatt. »Ich hatte keine Lust
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