Vollmondkuss
Klarisse es vorgibt - das könnte auch ein Fehler im Entwicklerbad gewesen sein. Oder Rouben ist zufällig so von dem Blitzlicht getroffen worden, dass er deshalb nur sehr schemenhaft zu erkennen ist. Wir dürfen uns nicht in einen solchen Unsinn hineinsteigern, Anna.« Jolin redete sich regelrecht in Rage. Sie musste Anna überzeugen. Und zwar um jeden Preis. »Das, was wir gerade tun, grenzt an Hexenjagd«, fuhr sie hitzig fort. »Aber wir leben nicht mehr im Mittelalter, verdammt nochmal, sondern in einer in jeder Hinsicht hoch entwickelten Gesellschaft. Die Tatsache, dass Rouben auf dem Foto nicht richtig zu erkennen ist, beruht einzig und allein auf einem technisch erklärbaren Phänomen. Kapierst du? Alles andere ist geradezu lächerlich.«
Anna schwieg, und in dieses Schweigen hinein hörte Jolin ihr eigenes atemloses Keuchen. Sie erkannte sich selbst nicht wieder. Immerhin hatte sie Rouben in der betreffenden Nacht mit eigenen Augen am Südpark gesehen. Es war absolut wahrscheinlich, dass er für den Tod des kleinen Hundes verantwortlich war. Und trotzdem verteidigte sie ihn, als ginge es um ihr Leben.
»Vielleicht hast du recht«, sagte Anna dann. »Und Rouben ist einfach nur ein bisschen anders als wir. Daran ist ja nichts Verwerfliches. Im Gegenteil, gerade das macht ihn ja so interessant.« Plötzlich klang sie erleichtert. »Bin ich froh, dass ich dich angerufen habe, Jol. Aber verstehst du, die Sache mit Carina hat mir einfach
Angst gemacht.« Jetzt lachte sie sogar. »Mannomann, wie leicht man sich einen solchen Unsinn zusammenspinnen kann!«
»Vielleicht liegt es auch nur am Winter«, sagte Jolin. »Und an der Dunkelheit.« Sie hätte es selbst nur zu gerne geglaubt.
»Ja.« Anna seufzte. »Danke, dass du mir den Kopf gewaschen hast, Jol. Bis morgen dann. Schlaf schön.«
»Gute Nacht«, sagte Jolin. Sie unterbrach die Verbindung und blickte unschlüssig auf das Funkteil in ihrer Hand. Anna hatte sie tatsächlich überzeugt, sich selbst aber noch lange nicht. Es half also nichts, sie musste es tun.
Jolin sprang vom Bett auf, rannte in den Flur und zerrte das Telefonbuch aus der Kommodenschublade. Noch während sie in ihr Zimmer zurücklief, suchte sie Klarisses Nummer heraus. Sie ließ sich auf den Stuhl neben ihrem Fenster fallen und tippte sie ein.
Es dauerte ziemlich lange, bis sich eine verschlafene Stimme meldete. Es war Klarisse, und sie zeigte sich alles andere als erfreut darüber, dass sie ausgerechnet von Jolin gestört worden war. »Was willst du?«, fauchte sie.
»Das Foto, das du von Rouben und mir gemacht hast.«
»Ts.« Klarisse lachte. »Mal sehen«, sagte sie dann.
»Bitte«, sagte Jolin.
»Nochmal.«
»Was?«
»Bitte sagen.«
»Klarisse, hör mal ...«, begann Jolin, doch ihr wurde sofort klar, dass sie so nicht weiterkam. Und plötzlich wusste sie, wie sie an das Foto kam. Sie musste Klarisse einen Handel vorschlagen, den diese ganz sicher nicht ablehnen würde. Dass Jolin ihn ihrerseits am Ende gar nicht einhalten konnte, ja nicht einmal versuchen würde, es zu tun, dürfte sie ihr allerdings nicht auf die Nase binden. Jolin fühlte sich nicht wirklich wohl dabei, doch um nicht verrückt zu werden, brauchte sie endlich Gewissheit. Außerdem hatte Klarisse ja die Möglichkeit, Nein zu sagen.
»Ich besorg dir etwas, das du schon lange haben willst.«
»Und was soll das bitte sein?«, fragte Klarisse spöttisch.
»Rouben«, sagte Jolin.
»Rouben?«
»Du willst ihn doch, oder?«
Klarisse schnaubte. »Und ausgerechnet du willst ihn mir besorgen? Glaubst du nicht, dass ich das selber besser kann?«
»Im Augenblick sieht es jedenfalls nicht so aus«, erwiderte Jolin. Es war ein Spiel mit dem Feuer, und allmählich geriet sie ins Schwitzen.
Klarisse schwieg, und Jolin wurde bewusst, dass sie nun tatsächlich den Trumpf in der Hand hatte. Es war ein seltsames Gefühl, das ihr eher Beklemmung als Vergnügen bereitete. »Was ist jetzt?«, fragte sie. »Kann ich vorbeikommen?«
»Was? Jetzt?«
»Logisch.«
»Nein.«
»Wie du meinst«, sagte Jolin. Sie setzte alles auf eine Karte und kappte die Verbindung.
Es dauerte keine zwei Minuten, und Klarisse rief zurück. »Wie willst du ihn dazu kriegen?«, fragte sie.
»Ganz einfach«, sagte Jolin. »Er tut alles, was ich will.«
Klarisse schwieg. Jolins Behauptung war gewagt, aber nach allem, was in den letzten Tagen passiert war, absolut nicht unrealistisch.
»Okay«, sagte Klarisse. »Ich will ihn aber ganz. Nicht
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