Vollmondkuss
brachte es aber nicht über die Lippen, sondern senkte beschämt den Kopf. »Warum hast du es nicht mit Klarisse gemacht? Oder mit Rebekka, Melanie oder ...«
»Warum hätte ich das tun sollen?«, erwiderte Rouben.
»Vielleicht hätte es dir mehr Spaß gemacht!«, fuhr Jolin ihn an.
Für ein paar Sekunden verlor Rouben seine frische Gesichtsfarbe, und die alte Blässe kehrte zurück. »Ich verstehe dich nicht«, sagte er gepresst.
»Oh, das tut mir jetzt aber wirklich leid«, erwiderte Jolin.
»Ich soll dich nicht verhöhnen, aber du tust es mit mir, ja?«, erwiderte Rouben. »Außerdem habe ich dich nicht betrogen.«
»Du hast mir versprochen, alles zu erklären. Du wolltest mir erzählen, wer du bist. Du hast gesagt, hinterher würde ich alles verstehen«, brach es aus Jolin hervor. »Aber ich verstehe nichts, Rouben. Gar nichts.«
»Das ist nicht meine Schuld«, erwiderte er.
»Nein?«
»Nein.«
»Willst du damit sagen, dass ich zu blöd bin ... ?«
»Du bist überhaupt nicht blöd«, unterbrach er sie. »Du siehst nur nicht genau hin.«
»Wohin? In dein Gesicht? Denkst du, ich sehe nicht, dass du deine Blässe verloren hast?«
»Das meine ich nicht«, erwiderte Rouben.
»Was dann?«
Er kam auf sie zu, streckte seine Hand aus und setzte seinen Zeigefinger auf ihr Brustbein. »Das meine ich. Dein Herz.«
»Und was ist mit deinem?«, fuhr Jolin ihn an. »Warum hast du mit mir geschlafen? Um mir den Sonnenaufgang zu zeigen, hätten wir auch die ganze Nacht auf der Matratze hocken und in den Himmel starren können.«
»Hätten wir nicht«, sagte Rouben. Er ließ seine Hand sinken. »Aber vielleicht spürst du einfach nochmal in dich hinein.«
»Und welche Erkenntnis soll mir da kommen? Werde ich dann wissen, ob du nun ein Vampir bist oder nicht? Oder ob du gestern noch einer warst und durch diesen kleinen One-Night-Stand mit einem Menschenmädchen in dieser Neumondnacht ebenfalls zu einem Menschen geworden bist?«
»Nicht mit einem Menschenmädchen«, korrigierte Rouben sie. »Mit dir.«
Ein warmer Schauer raste durch ihren Körper, der schlagartig von einem eiskalten abgelöst wurde. »Es ist also wahr«, sagte Jolin. »Du bist ein Vampir gewesen und jetzt...«
Rouben sah sie nur an. »Du brauchst dir übrigens keine Gedanken zu machen ...«, sagte er schließlich, »... wegen ...«
»Weswegen?«
»Na ja, ich weiß ja nicht, ob du die Pille nimmst oder ...«
Na, super! Wie schön, dass ihm das jetzt schon einfiel! Aber verdammt, Jolin hatte ja selber nicht daran gedacht. Seine Umarmungen, seine Küsse und seine Liebkosungen hatten ihr im wahrsten Sinne des Wortes die Sinne geraubt.
»Es konnte nichts passieren«, fuhr Rouben fort.
»Was macht dich da so sicher?«, fragte Jolin.
Rouben zuckte nur die Schultern und lächelte. »Wenn du mir nicht glaubst, kannst du ja einen Test machen. Dann wirst du sehen ...« Sein Blick kehrte sich nach innen. »Es passiert nie beim ersten Mal. Erst wenn ...«
»Wenn was?«
Wieder sah Rouben sie nur an, und plötzlich war eine sehnsüchtige Wärme in seinen Augen. Jolin wollte auf ihn zugehen und ihn umarmen, doch in diesem Augenblick wandte er sich ab, so als ob er ihre Gedanken gespürt hätte. Was auch immer er vielleicht für sie fühlte, Tatsache war: Er wollte sie nicht. Das hatte er ihr durch diese Geste mehr als deutlich gezeigt.
Jolin senkte den Blick und stürzte an ihm vorbei durch die Tür, die Treppe hinunter ins untere Stockwerk, wo sich ihr erst jetzt bei Tageslicht der Verfall des Hauses in seinem wirklichen Ausmaß offenbarte. Der Holzboden hatte faulige Stellen, einige Dielen waren lose, manche zersplittert, teilweise fehlten sie ganz, sodass Jolin den feuchten Steinboden darunter erkennen konnte und zahllose Mäuse und Ratten umherhuschen sah. Die bräunlich verfärbte Tapete löste sich bereits von den Wänden, einige Ecken waren von oben bis unten mit schwarzen Schimmelflecken überzogen, und überall hingen verstaubte Spinnweben.
Jolin schauderte vor Ekel. Sie zog den Kopf ein und hastete zur Tür. Wie hatte sie nur so blind sein und die Nacht in einem solchen Haus verbringen können!
»Himmelherrgott nochmal, wo bist du gewesen?«
Paula Johansson war gerade dabei, in ihre Winterjacke zu schlüpfen, als Jolin in den Flur trat. »Ma«, sagte sie. Im nächsten Augenblick lag sie ihrer Mutter in den Armen.
Paula drückte ihre Tochter an sich, vergrub ihr Gesicht in ihren offenen Haaren und küsste sie aufs Ohr. »Was ist passiert?
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