Vollmondkuss
Du riechst ja ganz muffig. - Jolin!« Paula schob sie von sich weg und musterte sie durchdringend. »Jetzt rede doch endlich!«
»Ma, ich ...« Jolin schüttelte den Kopf. »Ich kann nicht darüber reden.«
»Aber es ist doch nicht... Du bist doch nicht... ? Jolin, ich wollte gerade zur Polizei.«
»Hat Pa dir denn nicht gesagt ... ?«
»Dass du mit diesem Rouben verabredet bist, ja, das hat er. Aber das ist doch noch lange kein Grund, erst am nächsten Morgen nach Hause zu kommen und dann auch noch ...« Paula schüttelte sie. »Jetzt rede endlich! Ich muss wissen, ob ...« Sie brach ab.
»Schon gut, Ma«, sagte Jolin. »Mir ist nichts passiert. Niemand hat mir etwas getan. Ich war nur eine Weile mit Rouben unterwegs. Das ist alles.«
Paula wollte etwas erwidern, doch sie biss sich auf die Lippen. »Okay«, sagte sie dann. »Okay. Du bist zwar noch nicht volljährig, aber ...«
»Ma, es kommt nicht wieder vor«, beeilte Jolin sich zu erwidern. »Es war eine Ausnahme. Eine absolute Ausnahme.«
Paula stieß einen Schwall Luft aus. »Das macht es für mich ja so schlimm. Ich habe einfach nicht damit gerechnet.« Plötzlich lachte sie. »Ich bin aber auch eine!«, fuhr sie kopfschüttelnd fort. »Schließlich habe ich dir erst vor ein paar Tagen gesagt, dass du öfter mal rausgehen und dich amüsieren solltest. Besonders glücklich siehst du allerdings wirklich nicht aus. Willst du mir nicht sagen, was los ist?«
Jolin sah ihre Mutter an. Sie machte nicht den Eindruck, als ob sie sich mit irgendeiner lapidaren Erklärung zufriedengeben würde.
»Also gut, ich glaube, ich habe mich in Rouben verliebt«, sagte Jolin leise. »Ich habe gehofft, dass er mich genauso gern hat, aber ich habe mich geirrt. Wir haben die ganze Nacht in einer alten Scheune gesessen und geredet ...«
»In einer alten Scheune? Aber wieso seid ihr nicht in irgendein nettes Lokal gegangen?«
»Wir wollten allein sein.«
»Obwohl Rouben nicht in dich verliebt ist?«
Jolin hob die Schultern. »Wir verstehen uns ja trotzdem. Ach, Ma, es ist so schwer zu erklären. Es war irgendwie ja auch eine schöne Nacht«, sagte sie, und das war weiß Gott keine Lüge. »Ich habe überhaupt nicht gemerkt, wie die Zeit verging, sonst hätte ich dich und Pa ganz bestimmt angerufen.«
Paula nickte. »Es tut mir so leid«, sagte sie. Sie öffnete ihre Arme und blickte ihre Tochter mitfühlend an.
»Es ist okay, Ma«, sagte Jolin. Sie rührte sich nicht von der Stelle. Die Vorstellung, ihrer Mutter jetzt noch einmal um den Hals zu fallen und sich an ihrer Schulter auszuweinen, war ihr unerträglich. Ihre Gefühle für Rouben waren ihre Privatsache, sie wollte sie nicht teilen, sondern mit ihnen allein sein. Ohnehin konnte sie Paula nicht alles erzählen. Die Wahrheit würde ihre Mutter gar nicht begreifen. Jeder Trost und jeder Ratschlag, den sie ihr geben konnte, waren somit hinfällig. »Ich gehe jetzt duschen«, sagte sie. »Und danach fahre ich zur Schule. Ich möchte den Geschichtskurs nicht verpassen. Schließlich habe ich gerade erst hineingewechselt. Wenn Herr Gregori den Eindruck hat, dass ich das nicht ernst nehme, verbaue ich damit allen anderen diese Chance.«
Paula Johansson ließ die Arme sinken. »Du bist wirklich unglaublich«, erwiderte sie nicht ohne Stolz in der Stimme. »Ich denke allerdings, ich hätte es ganz ähnlich gemacht.«
In Wahrheit verhielt es sich natürlich anders. Jolin konnte einfach nicht zu Hause bleiben. Weder wollte sie sich verkriechen noch sich weiter von ihrer Mutter ausfragen und bemitleiden lassen. Und in ihrem Zimmer wollte sie erst recht nicht sein. Dort, wo alles angefangen hatte - mit dem schwarzen Buch und dem Auto, das beim Vorbeifahren die Vorhänge bewegt hatte. Und mit dem Käuzchen, das auf der Dachrinne über ihrem Fenster saß und anschließend in die Dunkelheit geflüchtet war. Obwohl diese Ereignisse bereits über einen Monat zurücklagen, erinnerte Jolin sich mit einem Mal so glasklar an jede Einzelheit, als ob all das gerade erst passiert wäre.
Damals hatte sie sich auf diese Ereignisse keinen Reim machen können, inzwischen wusste sie, dass das Auto der schwarze C6 und das Käuzchen auf der Dachrinne in Wahrheit Rouben in seinem Flugkörper gewesen sein musste. Nachdem ihre Mutter diesen Flugkörper getötet hatte, hatte er sich nicht mehr in eine Fledermaus verwandeln können und sich offenbar entschieden, fortan ihr Haus als Unterschlupf zu benutzen. Jolin war überzeugt, dass Rouben
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