Vollmondkuss
nicht nur der neue Schüler in ihrer Schule war, sondern auch der Mann, den sie im Keller, im Treppenhaus, auf der Straße und an anderen U-Bahn-Stationen gesehen hatte.
Dennoch gab es immer noch eine ganze Reihe Sachverhalte, die sie sich nicht wirklich erklären konnte und deren Zusammenhänge sie nach wie vor nicht begriff. Warum zum Beispiel hatte Rouben sich in Lechtewinks Antiquariat nach dem Vampirbuch erkundigt? Um ihre Spur aufzunehmen und sie verfolgen zu können? Wie hatte er überhaupt ahnen können, dass ausgerechnet sie sich dieses Buch ausgeliehen hatte oder ausleihen würde? Und woher wusste er, dass ihr das Armband mit den blauen Steinen so gut gefiel und dass sie eigentlich lieber Geschichte als Bio-GK machen wollte?
In aller Eile raffte Jolin in ihrem Zimmer ein paar saubere Kleidungsstücke zusammen. Anschließend schloss sie sich im Badezimmer ein, zog sich aus und schlüpfte unter die Dusche. Sie drehte das Wasser heiß, sodass sie bereits nach kurzer Zeit in feinem Dampf stand und ihre helle Haut sich allmählich rötete. Sie seifte sich mehrmals nacheinander ein und stellte sich vor, dass sie die vergangene Nacht, die Erinnerung an Roubens Blicke, seine Zärtlichkeiten und alles Übrige, was mit ihm zusammenhing, einfach fortwaschen würde.
Die offenen Fragen interessierten Jolin nicht mehr. Nicht einmal die Tatsache, dass Harro Greims den Flugkörper seines eigenen Sohnes um keinen Preis in seiner Nähe beerdigt wissen wollte, war für sie ein Grund, ihre Schlussfolgerungen noch einmal zu überdenken. Jolin hatte diese Geschichte zu Ende gebracht. Die Tatsache, dass Rouben auf ihre Frage, ob er durch diese Nacht zu einem Menschen geworden wäre, nicht beantwortet hatte, sagte ihr alles. Natürlich hätte sie sich vorwerfen können, dass sie sein Schweigen viel zu schnell akzeptiert und sich einfach der Magie dieser schwarzen, sternenklaren Nacht überlassen hatte. Doch was änderte das?
Es war nun mal passiert. Jolin hatte ihren Verstand ausgeschaltet und sich von Rouben verführen lassen. Sie hatte sich seinem geheimnisvollen Zauber hingegeben und mit ihm geschlafen. Und nun fühlte sie sich wund, verletzt und benutzt. Sie war so aufgewühlt und verwirrt wie kaum zuvor in ihrem Leben. Niemals hatte sie etwas derartig aus der Balance geworfen wie dieses Erlebnis. Und trotzdem hatte sie sich noch nie so lebendig gefühlt.
Jolin war Rouben nicht einmal mehr wirklich böse.
Im Grunde bereute sie nichts.
Eine Dreiviertelstunde später verabschiedete Paula Johansson ihre Tochter mit einem Kuss auf die Wange und einem Lächeln. Inzwischen war es kurz nach halb neun. Jolin hastete die Treppen hinunter. Sie spürte den kalten Hauch auf der ersten Etage, beachtete ihn aber nicht weiter. Wenn sie noch rechtzeitig zum Geschichtskurs kommen wollte, musste sie sich beeilen. Zum Glück brauchte sie an der U-Bahn-Station nicht lange auf ihre Bahn zu warten. In der Lessingallee lief sie mit langen Schritten die fahrende Rolltreppe hinauf und erreichte den Unterrichtsraum kurz nach dem Gongschlag.
Rouben war nicht da, aber das hatte sie auch nicht wirklich erwartet. Vielleicht wollte er noch eine Weile in dem Haus bleiben. Vielleicht kam er auch nie wieder in die Schule zurück. Bei diesem Gedanken krampfte sich Jolins Herz zusammen.
Du musst ihn vergessen, hämmerte sie sich ein. Je eher, desto besser. Sie holte ihre Sachen hervor und versuchte sich auf die bevorstehenden Unterrichtsstunden zu konzentrieren. Zu ihrer großen Überraschung wechselte Herr Gregori das Thema. Obwohl sie die politischen Hintergründe für den Zerfall des Osmanischen Reiches noch gar nicht abschließend behandelt hatten, kündigte er an, sich die letzten Wochen bis zu den Halbjahreszeugnissen mit dem Leben auf mittelalterlichen Schlössern und Burgen beschäftigen zu wollen.
»Das ist weit weniger tiefgreifend und dynamisch als die eurasische Geschichte, wird Ihnen aber dennoch eine willkommene Abwechslung sein«, kündigte er an. »Zumal wir ganz in der Nähe unserer Stadt eine Burgruine haben, die wir in der nächsten Stunde besichtigen und analysieren können.«
Jolin schüttelte den Kopf, und Karsten, ein hoch aufgeschossener schlaksiger Typ murmelte: »Gute Jahreszeit! Filigran ausgewählt...«
»Das kann ich nur bestätigen«, erwiderte Herr Gregori grinsend. »Schließlich sollen Sie sich nicht von sommerlicher Burgromantik ermüden lassen, sondern Ihre für meinen Geschmack viel zu oft zur Lethargie
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