Vom anderen Ende der Welt: Roman (German Edition)
gewissen Punkt, und hinter dem beginnt die Ratlosigkeit. So ist sie, die Wissenschaft: Vieles bleibt vorerst verborgen, manches vielleicht auch auf ewig. Doch all dies hat nichts mit deinen Fähigkeiten zu tun.
Gern hätte er die Hand gehoben und ihr die Strähne des Haares aus der Stirn geschoben, um dann den Bogen ihrer Wange hinabzufahren. Doch er begnügte sich damit, seinen Blick über die Konturen ihres Gesichtes gleiten zu lassen.
Mir würde es nicht anders gehen. Wärest du erkrankt, und ich müsste mich darum kümmern, dich am Leben zu erhalten, wäre es nicht besser um mich bestellt. Die Angst raubt einem die Kraft in noch stärkerem Maße als das Fieber. Sie macht uns zu Jahrmarktsbadern, blind probieren wir herum, und da wir zunehmend unsere Grenzen begreifen, klammern wir uns an jede Möglichkeit.
»Du hast den ersten Fleck auf dem Rücken.«
Nichts geschah.
Sein Atem blieb ruhig.
Sein Herz schlug weiter.
Gleichmäßig.
Schlag um Schlag.
»Es tut mir leid«, presste sie heraus. »Ich will dich nicht erschrecken.« Sie nahm seine Hand und klammerte sich daran fest.
»Mein Engel, wir wissen es doch beide. Du erschreckst nicht mich, du erschrickst. Das Blut in meiner Haut gibt uns die Antwort: dass wir aufhören können, darüber nachzudenken, wie es mit meinem Leben weitergeht. Wie es mit deinem Leben weitergeht, wenn du allein hier zurückbleibst, darüber sollten wir sprechen. Lass uns die Zeit nicht mehr mit sinnlosen Behandlungenverschwenden. Ich denke, dass wir uns jetzt um dich kümmern müssen.« Er schloss die Augen und spürte ihre Hand, die seinen Arm berührte, ihn sanft rüttelte, damit er wach blieb.
»Soll ich dich zur Ader lassen? Oder schröpfen? Vielleicht purgieren? Soll ich Einläufe vornehmen? Was ist jetzt das Dringlichste?«
»Dass wir den Tatsachen ins Auge sehen.« Liebevoll hatte er sprechen und sie in seinen Armen wiegen wollen, doch seine Worte hatten hart geklungen. Unter zwei flachen Atemzügen hervorgestoßen, hatten sie Mary zurückzucken lassen. Nur ihre Fingerspitzen lagen noch auf seiner Haut. Tränen begannen, ihr Gesicht hinabzulaufen, keine von ihnen schien sie zu bemerken.
Wegküssen müsste ich sie dir.
»Mary, es ist nicht nur ein Gefühl, es ist eine Gewissheit. Meine Zeit ist vorüber, lass uns über dich sprechen.«
Ihr Kopf fiel vornüber auf die Brust, sie schüttelte ihn immer wilder hin und her, und das Schluchzen ließ ihren Leib in Krämpfen zucken.
»Ich habe eine Bitte an dich. Eine Bitte, die du mir noch erfüllen musst.« Seine Stimme war nicht mehr als ein Flüstern, und er war nicht sicher, ob sie ihn gehört hatte. Doch das Schütteln des Kopfes ließ nach, und die Hand krallte sich in seinen Arm. Ein wohliger Druck, ihre Nägel in der Haut zu spüren, ein Druck, der den Schmerz in seinem Leib kurzzeitig überlagerte. Sie sah ihn an. Rote Augen, nasse Wimpern, bebende Lippen.
Hätte ich geahnt, dass der Abschied ein so grausamer Bruder des Sterbens ist, wünschte ich, ich wäre heute Nacht von dir gegangen. Leise und unbemerkt, als du schliefst. Dann wärest du erwacht und hättest es hinter dir gehabt.
***
»Wir haben etwas geschaffen, gemeinsam. Unsere Sammlung muss vollendet und dann nach England geschafft werden. Ich bitte dich, sie der Royal Society zu übergeben. Unsere Arbeit, sie ist dein Erbe.«
Die Gedanken rasten mit einer Schnelligkeit durch ihren Kopf, dass ihr schwindelte. Das Herz pumpte, und die Lungen schmerzten bei jedem Atemzug, sie schienen nicht genug Luft zu bekommen. Er sprach von ihrem Erbe. Es gab nichts zu vererben, es gab nur ein Leben, ein gemeinsames Weiterleben. Er durfte nicht vom Sterben sprechen, den Tod nicht herbeireden, nicht daran glauben. Sie beugte sich vor und schlang ihre Arme um Carl. Sie musste ihn halten, in diesem Leben halten.
Vielleicht war es der fremde, ein wenig süßliche Geruch seiner Haut, vielleicht war es die faulige Note seines Atems, vielleicht war es die Weichheit seiner Muskeln. Als sie ihn umarmte, spürte sie, was er ihr zu sagen versuchte.
Er starb.
Er hatte recht. Es war kein trügerisches Gefühl eines Fiebernden. Es war die Gewissheit des Sterbenden, die sie in ihren Würgegriff nahm. Vor ihrem inneren Auge zog alles vorbei.
Gedanken.
Blicke.
Berührungen.
Lachen.
Küsse.
Alles, was sie nicht mehr hatten miteinander tauschen können.
Ihr gemeinsames Heim, das sie nicht mehr hatten miteinander einrichten können.
Kinder, die sie nicht hatten ins Leben
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