Vom anderen Ende der Welt: Roman (German Edition)
geschehen.
»Ich habe Segeltuch Nr. 1, einen Stoff von hervorragender Qualität, mitgebracht, da ich nicht weiß, ob die Herrschaften Hängematten haben, in die sie eingenäht werden. Es ist das beste Tuch, das wir an Bord haben. Hierin werden wir sie auf ihre letzte Reise schicken.«
Er trat neben den Tisch, und Mary stand mühsam auf, aschfahl im Gesicht. Gemeinsam hoben die beiden Franklin an, um ihn in das Segeltuch zu legen. Kaum, dass Segelmacher-John das Tuch über ihm zusammenschlug, rannen Mary erste Tränen über die Wangen.
Eine Zwinge legte sich um Carls Brust und drückte ihm den Atem ab.
Stich um Stich wurde Franklin in das Segeltuch eingenäht. Mit jedem Stich verschwand ein Stück mehr von ihm aus ihrem Leben. Als sich Segelmacher-John Franklins Nase näherte, beugte er sich vor und strich ihm über die Wange. Leichen erkannte er einwandfrei. Der Stich durch die Nase, um sicherzugehen, dass derjenige, der in das Segeltuch eingenäht wurde, nicht mehr lebte, war nicht vonnöten.
Franklin war und blieb tot.
Kein Wunder wollte geschehen.
Es erschien Carl wie ein Hohn, dass heute die Sonne lachte, der Himmel hellblau leuchtete und das Meer gestrichen glatt vor ihnen lag. Salutschüsse donnerten über ihre Köpfe hinweg, und unter dem Beben jedes Schusses drohte ihm das Herz zu zerspringen. Doch es zersprang nicht. Sein Herz schlug weiter.
Die gesamte Mannschaft stand an Deck, als die beiden Männer zu Wasser gelassen wurden. Sie versanken und trieben noch einmal kurz zur Oberfläche auf, das Segeltuch bereits schwer vom Wasser. Dann glitten Franklin und Doc Havenport in ihren weißen Kokons in die Tiefe. Eine Weile waren es noch helle Schatten, die sich gegen das dunkle Blau abzeichneten, bis das Auge nicht mehr ausmachen konnte, ob es das Tuch war oder der Wunsch, den Stoff noch in der Tiefe schimmern zu sehen.
Carl zwang sich aufzuschauen.
Wir,
dachte er und fixierte die Frau an seiner Seite,
wir werden die Lücken, die diese beiden Männer hinterlassen haben, schließen müssen. Ob du eine Ahnung hast, worauf du dich mit dieser Reise eingelassen hast?
***
Den ganzen Tag über hatte sie die Kajüte nicht betreten. Hatte ihre Zeit an Deck und in der Offiziersmesse zugebracht. Längst war die Nachtruhe ausgerufen worden, und die Stille hatte das Regiment an Bord übernommen. Das Feuer im Kamin war erloschen, hin und wieder war noch ein leises Knacken in der glimmenden Glut zu hören.
Die Arme gestreckt, erhob sich Mary, und jeder Muskel ihres Körpers erschien ihr verhärtet. Mit zögerlichen Schritten lief sie zur Kajüte.
Sie wusste nicht, welche der Männer Franklin ins Behandlungszimmer geschafft hatten. Es war offensichtlich, dass sie ihn lediglich aus der Koje gehoben und fortgetragen hatten. Decke und Laken waren zerwühlt, jede Falte von Franklins Körper in die Wäsche gezogen. Auf der Seemannskiste lag seine Kleidung vom Vortag. Mary sank neben der Tür auf den Boden, schlang die Arme um ihre Beine und rührte sich nicht.
Atlantik, 22. November 1785
Der Morgen graute, als sie erwachte. Die Lampe stand neben ihr und malte mit der Flamme unscharfe Schatten in den Raum. Es waren die Schmerzen, die sie geweckt hatten. Die Kälte und die sitzende Haltung hatten ihren Rücken versteift. Langsam erhob sie sich und stand unschlüssig in der Kajüte. Besah sich die Wäsche, dann das Bettzeug. Beugte sich vor und ordnete Franklins Laken, faltete die Decke und strich die Kanten, bis sie aussahen, als wären sie mit dem Maßband gezogen worden. Stück um Stück legte sie seine Kleidung zusammen, und mit jedem Handgriff, der den Stoff bewegte, konnte sie den Geruch wahrnehmen. Einen letzten Hauch von Franklin.
Der Geruch ist immer das Letzte, was uns bleibt,
dachte sie.
Und wenn der Geruch verschwunden ist, können wir uns nur noch in unsere Erinnerungen flüchten
.
In der Weste erspürten ihre Finger eine Innentasche auf Brusthöhe. Ohne nachzudenken, griff sie hinein und fühlte kühles Metall. Sie zog es hervor. Ein Medaillon. Silbern glänzte es im Licht. Mary ließ den mit Ornamenten verzierten Deckel aufspringen und erstarrte.
Sie wusste nicht, was sie erwartet hatte.
Das Bild einer jungen Frau.
Vielleicht der Mutter oder auch der Eltern.
Einer Schwester.
Ein Heiligenbild vielleicht.
Aber nicht das.
Die Tuschezeichnung zeigte Carl.
Eine Gänsehaut, die vom Rücken ausging, zog sich über ihre Arme und Beine. Hastig band sie ihren Seesack auf und schob das
Weitere Kostenlose Bücher