Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Vom anderen Ende der Welt: Roman (German Edition)

Vom anderen Ende der Welt: Roman (German Edition)

Titel: Vom anderen Ende der Welt: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liv Winterberg
Vom Netzwerk:
Medaillon unter die Wäsche
. Jetzt verstehe ich dich,
rief es in ihr
. Jetzt begreife ich, was du damals gemeint hast, als ich dich fragte, warum du dich so für mich einsetzt, warum du mich nicht enttarnt hast. Jetzt erkenne ich den Grund, den du nicht benennen wolltest: Auch du warst falsch an Bord, auch dich hätte niemand hier geduldet, wenn man um dein Geheimnis gewusst hätte. Franklin, ich werde es hüten, so wie du meines gehütet hast. Sollten sie deine Habe an Bord verteilen oder sie verwahren, um sie nach der Rückkehr deiner Familie zu übergeben – niemand wird etwas erfahren. Das bleibt unser Geheimnis.
     
    Dan war dabei, den Tisch einzudecken, als Mary die Offiziersmesse betrat. Bleich schimmerte sein Gesicht im fahlen Morgenlicht. Der Tod zweier Männer durch eine Krankheit, die niemand aus der Mannschaft kannte, hatte jeden schockiert.
    Einen Augenblick später traf Carl ein und nahm Mary gegenüber Platz. Noch nie hatte sie ihn unrasiert und mit derart dunklen Augenringen gesehen. Er trug die Kleidung vom Vortag, in der er, dem Zustand nach zu urteilen, geschlafen hatte. Er goss sich Tee ein und nahm ein paar Schlucke.
    Ob er weiß, welche Zuneigung Franklin für ihn gehegt hat,
überlegte Mary, während sie den Blick über sein Gesicht wandern ließ.
Sicher hat er nicht einen Gedanken daran verschwendet. Sein Hang zu wechselnden Liebschaften in der Londoner Damenwelt ist hinlänglich bekannt. Ich wette darauf, dass er nicht auf den Gedanken kam, dass sein Gehilfe anders empfinden könnte. Aber das werde ich wohl nie erfahren.
    Carl schaute auf. Die Augen glänzten dunkel, die Lippen waren weich und wund. Sein Kehlkopf sprang bei jedem Schluck.
    Schöner hatte er nie ausgesehen.

Feuerland, 6.   Dezember 1785
     
    »Zwischen Rio de Janeiro und Kap Hoorn liegen zweitausendfünfhundert Meilen.« Nats Wangen waren vom Wind gerötet, ein Rotztropfen hing an seiner Nasenspitze.
    »Na und? Außerdem sind wir ja noch gar nicht da.« Seth starrte wieder auf das Wasser hinaus. Heute war es steingrau, formte mannshohe Wellen, die weiße Schaumkämme trugen und in Fontänen über Deck schlugen. Das Schiff krängte auf die Seite, und er spreizte die Beine, um die Schwankung auszugleichen.
Wenigstens bin ich nicht wieder seekrank geworden,
dachte er kurz, derweil Sir Belham an ihm vorbeiwankte und sich über die Reling erbrach.
    Nat wischte mit dem Ärmel der Jacke über seine Nase. »Ja, aber bald erreichen wir Kap Hoorn, und zweitausendfünfhundert Meilen, das ist eine weite Strecke«, sagte er eindringlich und zog die Augenbrauen zusammen.
    Ja, zweitausendfünfhundert Meilen Langeweile,
ergänzte Seth in Gedanken.
Morgens das Deck aufwischen, bis die Sonne aufgeht, donnerstags und sonntags wird’s gescheuert. Dann das Mannschaftsdeck fegen, Dienstag und Freitag wischen. Frühstück, Wache schieben, am Montag Wäsche waschen. Mittags Grog und Essen, am Nachmittag entweder Drill oder Wachschicht. Fünf Uhr Abendbrot und Grog, vielleicht Freiwache. Um acht Uhr Licht aus und schlafen, bis die nächste Wachschicht ansteht. In jedem Fall um vier Uhr wieder antreten zum Reinschiffmachen. Zweitausendfünfhundert Meilen die gleiche Plackerei.
Und die Stunden, die ich bei Marc verbringen kann, sind viel zu selten. Der Geruch der Tinte, das Rascheln des Papiers und die wohlige Wärme in der Offiziersmesse.
    Seth hob die Hände vor den Mund, formte eine Muschel und hauchte hinein. Aber weder seine Hände noch sein Gesicht wurden wärmer. Eine Freiwache in dieser Kälte ließ sich in der dünnen Kleidung kaum noch ertragen. Sobald er zur Wache eingesetzt wurde, bewegte er sich wenigstens, ob nun beim Aufentern in die Takelage oder beim verhassten Reinemachen. Die Arbeit wärmte, dabei kam er ins Schwitzen.
    »Und wenn du dir überlegst, wie lange wir seit Rio de Janeiro unterwegs sind, dann möchte ich gern mal wissen, wie weit entfernt London ist. So weit kann ich jedenfalls nicht mehr zählen.«
    »Du kannst auch nicht bis zweitausendfünfhundert zählen. Du hast irgendwem gelauscht.« Seth verzog das Gesicht. Sein Magen knurrte, das Dörrfleisch am Mittag war wieder knapp bemessen gewesen. Erst für Weihnachten plante Smutje Henry noch einmal reichlich Essen aufzutischen. Mit beiden Händen, das hatte Seth sich vorgenommen, würde er in die Schüsseln fassen, essen, bis ihm übel wurde, und sich dann in seiner Hängematte zusammenrollen. Sollte doch die Mannschaft bis tief in die Nacht feiern und sich an den

Weitere Kostenlose Bücher