Vom anderen Ende der Welt: Roman (German Edition)
versprochenen Sonderrationen Rum blöde saufen. Er würde schlafen wie lange nicht mehr, denn satt schlief man gut.
In den letzten Wochen war das Essen immer ekelhafter geworden. Das Wasser stank, doch wirklich widerlich war der Zwieback: Er lebte. Die Maden konnte man herausklopfen, wenn man jedoch nicht alle erwischte, bekam der Bissen eine Schärfe, die Seth an Senf erinnerte. Und der Schimmel, der oft schon Haare hatte und blau leuchtete, hinterließ in der gesamten Zwiebackscheibe stets einen faden Geschmack. Doch der Hunger war eine gute Sauce, die dafür sorgte, dass gegessen wurde, was auf den Tisch kam.
»Aber ich kann fast bis zweitausendfünfhundert zählen«, unterbrach Nat seine Gedanken.
Seth schaute auf. Sein Magen knurrte lauter.
»Findest du nicht auch, dass das unheimlich weit weg ist? Was ist, wenn wir den Weg nach London nicht mehr zurückfinden?«
Seth ließ einen Furz fahren. »Was willst du heute dauernd mit London?«
»Du alte Sau. Na, London ist England. Und England ist unser Zuhause. Da ist das Wetter fast so schlecht wie hier.«
Seth riss die Augen auf. »Deshalb denkst du an London? Du willst nach Hause?«
Nat drehte den Kopf beiseite und zeigte auf das Wasser hinaus. »Schau mal. Ich glaube, ich habe da gerade einen Haifisch gesehen.«
Obwohl er sich auf die Zehenspitzen stellte und lange nach einer Rückenflosse Ausschau hielt, konnte Seth keinen Hai entdecken. Als er sich zu Nat umdrehte, war der verschwunden.
Von oben betrachtet, sah Segelmacher-Johns Hinterkopf merkwürdig aus. Das Haar war verknotet und schuppig wie eh und je, aber oben auf dem Schädel, in der Mitte, schaute auch noch die nackte Haut hervor. Rot, nein, schweinefarbene Haut, entschied Seth und spürte, wie die flinken Hände des Segelmachers seine Hosenbeine einschlugen.
Dann setzte sich Segelmacher-John wieder auf und maß Seths Hüfte, wobei er leise lachte. »Da gibt das Navy Board warme Kleidung mit. Das ist eine gute Idee. Aber jedem ist das Zeug zu kurz, vielen auch zu eng, aber dich dürres Hühnchen können wir darin dreimal einwickeln.«
So groß ist die Hose doch gar nicht,
befand Seth, während er an sich herabblickte.
Das liegt sicher daran, dass er nicht gut sehen kann. Wie soll er das mit diesen Augen auch beurteilen können?
Er richtete sich auf, reckte den Hals in die Höhe und schob den Bauch hervor, aber Segelmacher-John hatte sich schon wieder seiner Bank zugewandt.
»Wo hast du denn deinen Bruder gelassen?«, fragte er. »Demkönnte ich dann auch gleich die Kleidung kürzen. Wir brauchen jeden Fetzen, um bei den langen Kerlen die Hosen und die Jacken zu verlängern.«
»Weiß nich, wo der ist.«
»Nun schlüpf mal aus der Hose, damit fangen wir an. Die Jacke können wir später machen.«
Kaum, dass Seth in seiner langen Unterhose dastand, war er dankbar, dass man Segelmacher-Johns Bank inzwischen unter Deck getragen hatte. Hier war zwar das Licht schlecht, doch das bemerkte der Segelmacher nicht, die Wärme spürte er sehr wohl. Und seitdem sprudelten auch wieder die Geschichten aus ihm heraus.
»Komm, Kleiner, setz dich zu mir.« Segelmacher-John rutschte zur Seite und klopfte mit der Hand auf den Platz neben sich. Er begann, den überflüssigen Stoff abzutrennen.
»Und wie gefällt es dir auf unserer großen Reise?«
Seth zögerte. »Na ja.«
»Was meinst du damit?«
»Es ist ein bisschen, na ja, halt ein bisschen langweilig.«
»Da fahren wir nun seit Wochen immer wieder in der Nähe der Küste entlang und dürfen Täler, Hügel, Steppenlandschaft und nun auch die Anden in ihrer Größe erleben. Und neulich, als wir inmitten der Wildnis angelegt haben, um die Vorräte aufzufrischen, da haben die Gentlemen von ihrem Landgang Pflanzen mitgebracht, die in der Heimat noch kein Mensch gesehen hat. Sie haben Vögel geschossen, deren Namen niemand kennt. Erinnerst du dich? Einige davon haben wir verspeist. Wie kommt es, dass du dich langweilst? Müsste das für einen Jungen in deinem Alter nicht eher ein Abenteuer sein? Ein großes, aufregendes Abenteuer?«
Seth schaute Segelmacher-John an. »Woher weißt du das alles?«, platzte es aus ihm heraus.
»Na, ich habe doch Augen im Kopf.« Er packte ein Lederbändchen, das er um den Hals trug, und zog unter seinem Hemd einenkleinen Beutel hervor. »Hier drin ist Augenwurzel, das schützt die Sehkraft. Die ist wichtig für meine Arbeit. Oder hast du schon mal einen Blinden mein Tagewerk verrichten sehen?«
»Nein, natürlich
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