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Vom anderen Ende der Welt: Roman (German Edition)

Vom anderen Ende der Welt: Roman (German Edition)

Titel: Vom anderen Ende der Welt: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liv Winterberg
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Knarzen des Holzes, das Schlagen der Segel und das Krachen des Wassers betäubten das Gehör.
    Als die Welle über den Bug hinweggerollt war, ragte die leere Spiere in die Luft, von der das Wasser troff. Mary ließ die Reling los. Wankte und schlitterte über Deck, wurde von Männern angerempelt, die schneller waren. Erst als sie näherkam, sah sie das Knäuel aus Armen und Beinen auf den Planken. Sohnrey hielt den Jungen an sich gepresst.
    »Vater«, schrie Nat. »Vater!«
    Die Wellen schlugen weiterhin unablässig auf das Schiff ein. Schulter an Schulter standen die Männer und hielten Ausschau, doch Kyle Bennetter war nicht mehr auszumachen.
    Mary spürte etwas unter ihrem rechten Fuß. Sie war auf Seths Hand getreten, der vor ihr auf dem Boden kauerte. Er reagierte nicht, sein Blick hing an seinem Bruder fest. Sein Unterkiefer zitterte, und Mary meinte, über das Wüten des Windes hinweg seine Zähne aufeinanderschlagen zu hören.
    »Klar zum Wenden!«
    Kapitän Taylors Befehl, das Schiff beizudrehen, löste Marys Betäubung.
Wir haben einen Mann verloren, den Vater zweier Kinder.
Steh nicht herum,
schalt sie sich.
Wir haben die Meeresenge nicht passiert. Wir müssen uns der See beugen und ruhigere Gewässer erreichen, wir müssen in einer Bucht Schutz suchen. Wir müssen die Schäden am Schiff in Augenschein nehmen. Carl, wo bist du? Wir müssen die Verletzten versorgen.
Sie beugte sich zu Seth hinab. Er musste aus den nassen Kleidern heraus, seine Lippen waren bereits blau angelaufen.
    »Komm mit mir«, sagte sie leise.
    Der Junge schüttelte den Kopf.
    »Peter Sohnrey wird deinen Bruder gleich in Doc Havenports Kajüte bringen. Kommst du mit mir, damit er dort nicht alleine ist?«
    Sofort stand Seth auf und wankte dem Niedergang entgegen.
     
    Den Zustand der Patienten beurteilen, eine Reihenfolge der Behandlungen festlegen, Brüche ertasten und fixieren, Blutungen stillen und Platzwunden reinigen. Du schaffst das,
ermutigte sich Mary und schaute sich verzweifelt um. Es war stickig in der Kajüte, und zu viele Männer warteten darauf, dass ihnen geholfen wurde. Die Erschöpfung machte Marys Glieder schwer und ließ die Augen brennen. Sie griff in Doc Havenports Instrumentenkoffer, der sich unter der Jolle verkeilt hatte und nicht über Bord gespült worden war. Sie nahm die nasse Schere und zog die Schneiden über ihre Jacke, doch der feuchte Wollstoff verwischte die Tropfen zu feinen Schlieren. Ihr fehlte Hilfe.
    Einige der Verletzten saßen stöhnend am Boden, Medikamente und Instrumente fielen durch das Rütteln des Sturms immer wieder vom Tisch.
    In der Koje des Schiffsarztes lagen die beiden Kinder. Von Carl narkotisiert, waren sie zur Ruhe gekommen. Besonders Nats Zustand war bedenklich. Im Wechsel hatte er sich mehrfach erbrochen oder wimmernd zusammengerollt. Sein Körper hatte dabei unentwegt gezittert. Seth hatte regungslos danebengesessen undnur den Mund geöffnet, als sie ihm von der Opiumtinktur verabreicht hatten.
    Carl riss die Tür auf. »Komm zur Messe, so schnell wie möglich. Wir werden jede Hand benötigen.« Er öffnete einen der Schränke und zerrte einen Holzkoffer hervor.
    Keine neuen Katastrophen
, schrie es in Mary. Schnell warf sie die Instrumente in Doc Havenports Koffer und versprach den wartenden Patienten, bald zurück zu sein.
    Sie betrat die Messe, als Carl die beiden Haken aus den Ösen schob und den Koffer aufklappte. Auf einem sandfarbenen Bezug, der mit braunem Muster durchzogen war, ruhten eine Schere, zwei Spatel, drei riesige Messer mit Holzgriffen und zwei Sägen, allesamt mit rotbraun glänzenden Griffen.
    Auf dem Esstisch der Offiziersmesse lag Bartholomäus. Er war nicht bei Bewusstsein. Auf seiner Stirn klaffte eine blutende Wunde.
    Carl band das Schraubentourniquet um Bartholomäus’ Oberarm. Unterhalb des Ellenbogens war kaum noch eine Hand, ein Gelenk oder ein Unterarm auszumachen. Schieres Fleisch, aus dem weiß die Knochen stakten. Das Blut tropfte nicht, es lief in fingerdickem Fluss gen Boden.
    Er ist Toppsgast, ganz oben in den Segeln ist er zu Hause. Wie ein Tänzer springt er dort umher, ich habe es gesehen, wir können ihn nicht zum Krüppel machen
. Mary schwieg, trat an den Tisch und rang nach Atem.
    Peacock streute Sand in die dunkelrot schimmernde Lache unter dem Tisch, bis sich Sand und Blut verklumpten.
    »Was ist mit ihm geschehen?«, fragte sie, griff Bartholomäus’ Kinn und öffnete seinen Mund. Quer über die Mundwinkel legte sie einen

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