Vom anderen Ende der Welt: Roman (German Edition)
seiner Hose ab.
Mary schloss Doc Havenports Koffer und wandte sich an Toni. »Es ist eine herkömmliche Halsentzündung, die abklingt, und dein Fieber ist bereits gesunken. Morgen kannst du sicherlich wieder arbeiten«, sagte sie.
Der Zimmermann nickte, zog sein Halstuch zurecht und lehnte sich zurück.
Edison gab keine Ruhe. »Und dieses Öl, es blakt und stinkt«, pöbelte er weiter.
»Aber es gibt Licht, und jetzt halt dein Maul«, entgegnete Bartholomäus mit angespanntem Gesicht und vorgeschobenem Kiefer.
Der Umgang der Männer war nie rücksichtsvoll gewesen, doch in den letzten Tagen war der Tonfall noch eine Nuance aggressiver geworden. Die Kälte zermürbte die Mannschaft, und das kärglicher werdende Essen schwächte sie. Der verhangene Himmel machte sie müde, und vor ihnen lag die Le-Maire-Straße. Ein Nadelöhr zwischen Feuerland und Staten Island.
Mary stieg den Niedergang hinauf. Eisiger Wind schlug ihr ins Gesicht, als sie das Deck betrat. Nahezu magisch zog es sie in den letzten Tagen an die Reling. Die Beine in die Breite gestemmt, hielt sie das Gesicht in den Wind und starrte aufs dunkelgraue Wasser. Und wieder war es der eine Gedanke, der, seitdem sie die erste der Feuerland-Inseln betreten hatten, beständig in ihr aufkam:
Vater, hier irgendwo zwischen Feuerland und Kap Hoorn, irgendwo in diesen ungestümen Gewässern ist dein Grab. Irgendwo in diesen Wellen bist du ertrunken.
Ein gellender Schrei aus dem Krähennest ließ sie zusammenzucken, ließ sie den Blick heben, doch das Dunkelgrau blieb auf Augenhöhe. Eine Welle erhob sich vor dem Schiff, so gewaltig, dass sie ihren Blick daran hinaufklettern lassen musste, bis der Kopf im Nacken lag, um die schäumende Krone zu erblicken.
Steinern sah die Welle aus, wie sie einen Moment aufrechtstand.
Zu kurz war die Zeit, einen Gedanken zu fassen, um Angst zu verspüren oder um wegzulaufen.
Für den Bruchteil einer Sekunde verharrte die Welle, fiel dann zusammen und krachte mit dem ihr eigenen Gewicht auf das Schiff. Die Wucht riss Marys Füße von den Planken, doch sie spürte nicht das Wasser, das sie einhüllte, nur ihre Hände spürte sie. Sie gaben den Koffer frei und umklammerten die Reling. Sollte sie loslassen, würde die Welle sie fortreißen und auf der anderen Seite des Schiffes von Deck spülen. Es gab einen dumpfen Schlag, und ihre Füße spürten wieder Halt. Nass hing sie an der Reling, der kalte Wind traf sie. Salz brannte in ihren Augen.
Schreie lärmten durcheinander, und irgendwer läutete die glocke im Sturm, um die Mannschaft an Deck zu rufen. Die Segel mussten eingeholt werden, bevor einer der Masten brach.
Aus dem Wasser bleckten Felsvorsprünge, die zum Greifen nah kamen. Die Wellen drückten und schoben die
Sailing Queen
, brandeten auf die Felsen, sprangen zurück, rollten wieder über das Schiff hinweg und wurden zu Sturzbächen, die über die Planken jagten. Mary presste sich gegen die Reling und sah die Matrosen. Die sich gegen den Wind stemmten und über die Wanten in die Takelage aufenterten.
Mit welchem Mut diese Männer den Naturgewalten trotzen,
dachte sie und war versucht, ein Kreuz über Stirn und Brust zu schlagen.
Ihr Blick fiel auf das Bugspriet. Zwei Hände krallten sich an der Spiere fest. Sie schrie auf, doch der Wind schlug ihr ins Gesicht, dass sie husten musste. Mit dem Finger zeigte sie zum Bugspriet, das sich erneut neigte und im Wasser versank. »Mann über Bord!« Marys Stimme überschlug sich. Noch einmal sog sie die Lungen voll Atem und rief: »Vorn am Bug. Mann über Bord.«
»Der Junge«, brüllte Sohnrey. Nats schmaler Körper baumelte in der Luft. Mit einem Arm umklammerte er das nasse Holz, die andere Hand hielt er in die Tiefe. Abermals sank das Schiff, und die Beine des Jungen wurden mit Wasser umspült.
Eine Männerhand tauchte aus dem Wasser auf und packte die Hand des Jungen. Kurz erschien Kyle Bennetters Kopf, er schnappte nach Luft.
»Nat hat ihn.« Sohnrey stürzte zum Bug vor. Das Schiff senkte sich erneut, und der Körper des Jungen verschwand in einer Woge. Die Hand des Vaters glitt aus der des Sohnes, der noch nach dem Arm des Vaters langte. Dann kam die nächste Welle, die über das Schiff hinwegrollte. Es war Sohnreys Rücken, der Mary kurz die Sicht auf Nat und den Arm, den er gepackt hielt, nahm. Das Wasser erfasste die beiden und schluckte die Schreie des Jungen.
Für einen Augenblick war kein menschlicher Laut an Bord mehr zu hören.
Das Grollen des Windes, das
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