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Vom anderen Ende der Welt: Roman (German Edition)

Vom anderen Ende der Welt: Roman (German Edition)

Titel: Vom anderen Ende der Welt: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liv Winterberg
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Bartholomäus. Obwohl er nicht bei Bewusstsein war, banden sie seine Beine und den verbliebenen Arm mit Tauen an den Tischbeinen fest. Für den Fall, dass er zu Bewusstsein kommen sollte, stellten sie die Opiumtinktur bereit, und Mary hörte, dass Peacock leise ein Stoßgebet gen Himmel sandte.
    Sie konnten beginnen.
    Toni setzte das Sägeblatt an. Knackend arbeitete sich das Metall durch Fleisch, Knochen und Sehnen. Das Blut rann über die Säge, an Tonis Händen herab, auf den Tisch und von dort auf den Boden, wo es sich mit dem Sand vermengte.
    Mary wurde übel. Und während Carls Finger im Fleisch nach den Gefäßen wühlten und sie abbanden, wischte sie mit nassen Tüchern das Blut in der Wunde beiseite. Sie tat es Peacock gleich und atmete durch den Mund ein und aus.
    Vater
, dachte sie und unterdrückte die wieder aufsteigenden Tränen.
Du hast mir nie erzählt, wie schlimm es auf solch einer Reise wirklich ist.
***
     
    Zuerst war da das Dröhnen.
    In seinem Kopf.
    Dann hörte Seth das Stöhnen.
    Es war sein Stöhnen.
    Langsam öffnete er die Augen. Eine Kajüte. Ein Tisch. Kleine Regale an den Wänden. Eine Koje. Er lag in Doc Havenports Koje. Wie gemütlich das war. Kein Rundrücken, wie man ihn nach einer Nacht in der Hängematte hatte. Seth streckte die Beine. Sein Oberschenkel berührte etwas. Er drehte den Kopf. Nat lag neben ihm, zusammengerollt schlief er.
    Nat.
    Und plötzlich war da ein schmerzhafter Druck in seinem Bauch.
    Vater!
    Er fuhr auf.
    Der Druck stieg vom Bauch aufwärts und nahm ihm die Luft.
    Dann kam das Zittern.
    Überall. Die Beine, die Arme, die Hände, selbst die Lippen, alles an ihm zitterte.
    Die Hand am Bugspriet. Die Welle, die Nat und Vater wegspülte.
    Seth keuchte. Der Rotz verstopfte seine Nase. Er wischte mit der Hand durch sein Gesicht.
    Und er sah, dass Nat die Augen öffnete, sah, dass sein Bruder ihn anschaute. Kein Blinzeln. Kein Zucken der Mundwinkel. Nicht eine Bewegung war in seinem Gesicht zu erkennen.
    Plötzlich schoss Nat in die Höhe, stieß Seth beiseite, beugte sich über den Rand der Koje und kotzte. Deutlich vernahm er das kehlige Geräusch, das Klatschen auf den Planken, den beißenden Geruch. Seth schloss die Augen und atmete schneller und schneller.
    Er spürte, dass Nat zusammensank. Einen Wimpernschlag lang war nur ihr Atem zu hören. Versetzter Atem. Erst Nat, dann Seth. Nat und wieder Seth.
    Der Schrei zerriss die Stille. Ein greller Schrei, so grell, dass erwehtat. Seth drehte sich um und umarmte seinen Bruder, dessen Leib sich krümmte und krampfte. Erst jetzt spürte er, dass auch sein eigener Leib vom Heulen geschüttelt wurde. »Hör auf, hör auf«, brüllte er.
    Doch Nat schwieg nicht, stattdessen schraubte seine Stimme sich höher und höher.
    »Vater«, glaubte Seth zu verstehen. Er presste seinen Kopf gegen den krampfenden Rücken seines Bruders und schluchzte.
    »Du hast doch noch mich«, rief er. »Du hast doch noch mich.«

Kap Hoorn, 9.   Januar 1786
     
    »Warst du bei den Jungen?«, fragte Mary und legte die Schere beiseite.
    Carl nickte. Er beugte sich über Bartholomäus und legte die Hand auf dessen Stirn. »Das Fieber ist gesunken.«
    »Ja, endlich. Vielleicht wird er wieder auf die Beine kommen. Wie geht es den Jungen?«
    »Unverändert. Seth isst regelmäßig und antwortet immerhin, wenn man ihn anspricht. Aber Nat musste ich wieder füttern.«
    Nats leerer Blick tauchte vor Marys innerem Auge auf. Der Mund, der Löffel, das Schlucken. Ihre Fragen. Sein Schweigen.
    »Ich habe eben mit dem Kapitän gesprochen«, sagte Carl und reichte ihr saubere Scharpie, »wir werden jetzt in Kürze Kap Hoorn erreichen und eine der Inseln anlaufen.«
    Mit der Pinzette entfernte Mary die durch Blut, Wundwasser und Eiter verklebte Scharpie von Bartholomäus’ Stumpf.
Wie lange warten wir schon darauf, endlich wieder festen Boden unter den Füßen zu spüren,
fragte sie sich und seufzte.
So lange ist der letzte Landgang nicht her, mir scheint er jedoch inzwischen zu einem anderen Leben zu gehören.
    Es mochte zwei Wochen her sein, dass sie Kapitän Taylor an Deck getroffen hatte, der konzentriert die Gezeitenströme beobachtet hatte, die an Feuerlands Spitze aufeinandertrafen. Tagelang bezog er, sobald der Morgen graute, seine Position. Die Seewar weiterhin unruhig, der Wind böig, sein Schiff nicht viel mehr als ein schwimmendes Lazarett. Nur für einen Moment hob er den Blick, dann vertiefte er sich wieder in seine Aufzeichnungen.
    Zügigen

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