Vom Aussteigen und Ankommen
Atheismus seines Vaters erst, als dieser fünfundachtzig Jahre alt war, die beiden einen Spaziergang im Garten des Altenpflegeheims Telgte unternahmen und der alte Mann plötzlich mit seinem Spazierstock zum Himmel zeigte und rief: »Ich habe das Gefühl, dass der da oben mich die ganze Zeit beobachtet.« Sein Vater sei der gläubigste Atheist gewesen, den man sich vorstellen könne, sagte Jörg von Winterfeld.
Ein Hase hoppelte durchs lange Gras, seine Löffel schossen aus den Halmen. Jetzt lief Tango. Ein Güterzug übertönte die Musik für eine Minute, er war so laut wie eine Güterzugstunde. Dann lief kein Tango mehr, sondern Gerhard Gundermann. Der war Jörg von Winterfelds Entdeckung dieses Sommers, ein Liedermacher aus Ostdeutschland, zuvor Baggerfahrer und nach der Wende plötzlich tot, da war er keine fünfzig Jahre alt. Erst lief Gundermanns Lied »Linda«, darin sang er davon, wie seine Tochter auf die Welt kam und ihn aus der Dunkelheit riss.
»Als ich das das erste Mal gehört habe, habe ich geweint«, sagte Jörg von Winterfeld. »Die glücklichsten Momente in meinem Leben waren die Geburten meiner Kinder. Das Glücksgefühl hält bis heute an. Kinder sind ein emotionaler Schlüssel für die eigene Kindheit.«
Dann sang Gundermann:
Ich sitz auf meiner Bank und lass die Zwiebel stinken,
das macht die Mücken krank und lässt die Sonne sinken.
Der Weißwein lockt und lässt den alten Papa hinken.
Ich habe heute Bock, mich ganz langsam zu betrinken.
Meine Augen tauchen in das Abendlicht.
Das ist so milde wie seit zwanzig Jahren nicht …
Das war mein zweitbester Sommer.
Ich schlürf ihn aus bis zum letzten Zug.
Ich will das alles hier haben.
Und immer wieder und nie genug.
Ein Maikäfer brummte heran und stand über uns wie der Hubschrauber im Tiefflug über Silkes Pferden. Der Käfer stieß sich immer wieder an dem Terrassendach. Er blieb auf der Plane sitzen und hatte schon zerzauste Unterflügel, dünn wie Pergamentpapier. Denn flog der Maikäfer Summsemann nahe an Jörgs Kopf vorbei in Richtung Mond.
Morgens sah ich als Erstes Jörg von Winterfeld, wie er auf der Terrasse saß und Kaffeebohnen mahlte. Er kurbelte schnell. Seine Motivation dafür, ein einfacheres Leben zu suchen, war sein Wunsch nach einem bewussteren, intensiveren Leben. Ob diese Kaffeemühle dazu beitrug?
In fünfzehn Minuten war der Kaffee fertig. Wir tranken ihn und fuhren zum Bahnhof in Ostbevern. Jörgs Frau hatte uns ihren Motorroller dagelassen, darauf kurvten wir über Feldwege durchs Münsterland, an Maisäckern und an Klinkerhäusern vorbei, ich trug zwei Rucksäcke, Jörg hatte einen weiteren um den Bauch geschnallt, mein Koffer lag unter seinen Füßen. Wir saßen im ICE Hamburg–Basel und aßen im Zugrestaurant Zitronenhuhn. Jörg von Winterfeld trug ein langärmliges weißes T-Shirt, das seine Kinder mit einer Sonne und lila Vögelchen bemalt hatten. Es war halb zwölf, und wir bestellten Bier. Zwei konservativ gekleidete Amerikaner, ein Ehepaar in den Sechzigern, aßen am Nebentisch Zitronenhuhn und bekreuzigten sich vor dem Essen.
»Für mich gehört dieses Unterwegssein echt dazu«, sagte Jörg von Winterfeld. »Dann brechen im Kopf alte Strukturen auf. Ich liebe diese Bandbreite: Übernachten in der Besenkammer und im Fünf-Sterne-Hotel, in diesen Übergängen und Veränderungen liegt sehr viel Energie.«
In Haßmersheim im Odenwald gingen wir vom Bahnhof zur Burg. Von Weinhügeln flankiert, kurvte der Neckar durchs Tal, schmal und braun. Die Landschaft schlief, die Sonne war hellwach. Am Hang auf der anderen Flussseite lag unser Ziel, die Burg Guttenberg. Hoch ragte ihr Turm heraus, der Bergfried aus dem dreizehnten Jahrhundert, dieser Hochzeit des Mittelalters, das reich an Erfindungen war, das Geburtsjahrhundert der ersten Universitäten, eine Zeit großen Bevölkerungswachstums, das ein Vorbote des dramatischen vierzehnten Jahrhunderts war, von Missernten und Pest. Wir gingen den bewaldeten Berg hinauf, die Straße war schattig, und die Luft roch nach Moos und Sandstein.
Auf der Burg begrüßten viele Menschen Jörg von Winterfeld, darunter die Baronin von und zu Gemmingen-Guttenberg, die eine Zahnspange trug, und der Gastronom, der ein mittelalterliches Fell anhatte. Die Baronin erzählte, dass ihre Familie hier auf der Burg vor zehn Jahren auch noch sehr einfach gelebt habe, ohne Heizung, nur mit Kachelöfen in wenigen Räumen. Das Mittelalterfest war eine wichtige Einnahmequelle. Denn der Unterhalt
Weitere Kostenlose Bücher