Vom Aussteigen und Ankommen
härter, ich bin dann mal weg.‹ Das ist schäbig, es gibt da eine Verpflichtung … Notfalls würde ich sogar zur Waffe greifen, um uns zu verteidigen«, sagte der Heidelbeerzüchter.
Emmi nickte und aß zufrieden. Vielleicht würde das Modell Frank ohne die Emmis, die sich selbst zurücknehmen und den Jugendlichen mal einen Hecht kochten, nicht funktionieren.
Frank, der nicht aus Prinzip am Existenzminimum lebte, sondern aus Prinzip nicht viel arbeitete, hatte kürzlich eine zweite Wiese gepachtet. Er wollte künftig die Aroniabeere in die Oberpfalz bringen. Sie kam aus Nordamerika, war frostresistent und wirkte blutdrucksenkend. Ein Anti-Aging-Effekt galt als erwiesen, die Beere der Zukunft. Darauf war er gekommen, weil die Zeitschrift Naturheilpraxis darüber geschrieben hatte. Er gab mir den Artikel zu lesen, darin stand: »Immer wieder zeigt uns das Leben, dass das Unscheinbare, weniger Beachtete oft das ist, worauf es ankommt.«
Frank holte eine Flasche Aroniabeerensaft aus der Küche: »Hier, probier mal.«
Er öffnete die Flasche, und es zischte tüchtig.
»Oh, letzte Woche war der noch gut.«
Er roch an dem Saft und trank den Rest aus der Flasche.
Mit dem Gaukler von Telgte im Odenwald
J örg von Winterfeld lebte seit einigen Monaten in einem Zirkuswagen. Der Wagen stand an einer Bahnstrecke in der Nähe von Münster. Das Dach und der chromglänzende Schornstein des Wagens schauten über einem brennnesselbewachsenen Erdwall hervor. Ein Zug rauschte vorüber, die Waggons schimmerten durch die Äste. Ich ging um den Wall herum und sah nun den ganzen Wagen. Er war bunt und fröhlich und hatte eine Terrasse, auf der Jörg von Winterfeld saß und sein Gesicht in Richtung Sonne hielt.
Jörg von Winterfeld hatte kurzgeschorenes Haar, er war ein großer, hagerer Mann mit etwas grobporiger Haut. Tags darauf wollten wir gemeinsam zu einem Mittelalterfest im Odenwald fahren, wo Jörg als Magister von Winterfeld auftreten würde. Der war er fast an jedem Wochenende: ein mittelalterlicher Gaukler und Minnesänger. Diesen Beruf hatte er schon seit zwanzig Jahren, und bald wollte er parallel eine neue Karriere als Liedermacher beginnen. Er übte dafür seit einigen Wochen Akkordeon.
Er machte Kaffee. Das dauerte eine halbe Stunde, denn Jörg von Winterfeld hatte eine neue Kaffeemühle. Ein einfaches Gerät aus Plastik, in das man eine Handvoll Bohnen füllte, mehr passte nicht hinein. Und dann musste man kurbeln. Das billige Mahlwerk schluckte mühsam Bohne für Bohne. Der Gastgeber mühte sich. Züge fuhren vorbei, eine schüchterne Nordwest bahn, ein brüllender Güterzug. Nach zwanzig Minuten war das Kaffeepulver fertig.
»Die Mühle habe ich neu gekauft«, sagte Jörg von Winterfeld, »das ist auch so ein Schritt in die Einfachheit: bewusster trinken, bewusster essen.«
Er hatte die raue, lustige Stimme eines starken Rauchers. Wir tranken jeder drei Kaffee. Seine beiden Kinder, ein neunjähriger Sohn und eine siebenjährige Tochter, spielten auf dem Feld, das man von der Terrasse überblickte.
Die Kinder gingen, wir tranken Bier. Die Luft war mild geworden, die Sonne senkte sich über die Bahngleise und versprach uns ein langes Sommerwochenende. Jörg von Winterfeld legte chilenische Sonnenuntergangsmusik auf. Die Sonne ging daraufhin tatsächlich unter. Der Gastgeber warf sich einen chilenischen Wollponcho über.
Als seine Ehe zerbrochen war, ließ sich Jörg von Winterfeld diesen Zirkuswagen zusammenzimmern. Der Wagen kostete sechsunddreißigtausend Euro, er sollte ihn mobil machen und sein Leben schlichter. Vorher hatte er alles, was er besaß, als Selbstverständlichkeit hingenommen, das sollte sich ändern. Er kannte das Lebensmodell Zirkuswagen schon lang aus der Mittelalterszene. Er hielt diese Leute bis vor einem Jahr für Spinner. Ihn als alten Bürgersohn würde das nie reizen, hatte er gedacht. Nach der Trennung von seiner Frau änderte sich seine Wahrnehmung.
Wie alle Aussteiger rauchte er Selbstgedrehte, Filter von Gizeh, Tabak von American Spirit, er zündete sich eine nach der anderen an.
»Ich bin ein Suchtmensch«, sagte er, »wie mein Vater.« Der war auch ein Leben lang Kettenraucher und wurde siebenundachtzig.
Der Gaukler stammte aus der Familie von Winterfeld, die so lange preußische Generäle hervorgebracht hatte, bis es keine preußischen Generäle mehr gab. Sein Vater war dann schon Kunstmaler und Übersetzer, Wehrmachtsdeserteur und strenger Atheist. Sein Sohn begriff den
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