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Vom Aussteigen und Ankommen

Titel: Vom Aussteigen und Ankommen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jan Grossarth
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Herberge, ging auf den Dachboden und fiel dort, im Schlaflager, in duftendes Heu. Es wärmte den Schlafsack von unten, als habe es die Sonnenstrahlen gespeichert. Am Morgen suchte ich die Toilette. Die Heuherberge war ganz auf Mittelalter gemacht. »Stallungen« waren im Treppenflur ausgeschildert, ich folgte dem Schild ins Untergeschoss. Doch die Stallungen waren nicht die Toiletten, sondern die Autogaragen. Ich dachte, ich wäre ein Pferd, doch ich war ein Ritter.
    Am Samstagmorgen kamen zum Burgfest Tausende Menschen auf die Burg Guttenberg. Einige waren als Burgfräulein, Derwisch, Knecht oder Kreuzritter verkleidet. Es roch schon nach Fleisch, Knoblauch und Räucherstäbchen, als am Vormittag eine Karawane zu einer Bühne im Burghof zog, auf der Magister von Winterfeld nach kurzer Nacht krächzend das Fest eröffnete.
    Zum Burghof führte eine Brücke, auf deren Mauer der Magister später saß. Er hielt sein langes, blechernes Signalhorn in der Hand, den Trichter des Horns hatte er auf der Spitze seines Gauklerschuhs abgestützt. Er sprach die Passanten an. Zu Kleinkindern im Kinderwagen sagte er: »Oh Prinzessin, freut Euch, dass Ihr Euch eine Kutsche leisten könnt. Seltsam nur, dass Ihr den Esel hinter die Kutsche gespannt habt.«
    Gegelte Haare von Festbesuchern kommentierte er: »Seltsam, habt Ihr dies gesehen? Es scheint eine neue Mode zu sein, sich Schweineschmalz in die Haare zu schmieren.«
    Zwei Kinder aßen Bananen. »Was habt ihr denn für sonderbare Würste?«
    »Bananen.«
    »Ah, Bananen, das sind doch jene Früchte, die Cristobald Columbo alsbald aus Amerika mitbringen wird.«
    »Ah, ihr habt ein Zeiteisen um den Arm geschlagen, wie spät ist es denn?«
    Zwölf Uhr. Zeit fürs erste Bier.
    Wir rauchten auf der Burgterrasse, und Qualmwölkchen verschleierten kurz den Blick hinab auf das Neckartal, ehe sie sich auflösten.
    Kurz nachdem sie sich kennengelernt hatten, wollten Jörg von Winterfeld und seine Frau vor zehn Jahren nach Chile auswandern. Es bestand die Möglichkeit, ein von einer Bekannten geleitetes Kinderheim weiterzuführen, da diese alt wurde. Aber den beiden gefiel es in Chile nicht so gut. Genauso lästig wie der permanente Bewertungsdruck in Deutschland, der sie weggetrieben hatte, erschien ihnen bald die permanente Bewertungsfreiheit in Südamerika.
    »Ich hatte Sehnsucht nach der deutschen Kompliziertheit«, sagte Jörg von Winterfeld. Also zogen sie ins Münsterland.
    Von der Burgterrasse aus sah der im Tal fließende Neckar schlank aus wie eine Natter. Faule Schafwölkchen klebten am Himmel, nichts bewegte sich, die Landschaft tat so, als habe sie von Galileo nichts gewusst, als sei die Erde eine Scheibe und der Himmel ihr Zeltdach. Drei Dörfer schliefen, ihre Häuser waren leider nicht aus Lehm, die Dächer öfter solarzellenblau als ziegelrot.
    Jörg von Winterfeld ist in den achtziger Jahren groß geworden. Er hatte sein Germanistikstudium abgebrochen, wollte auf die Schauspielschule, die aber wollte ihn nicht, er spielte in einem freien Theater in Gummersbach den Faust, wollte schon gerade eine Schuhmacherlehre beginnen, da sprach ihn jemand von der Mittelalter-Künstlergruppe Cramer Zunft und Kurzweyl an. Es war die Blütezeit der Mittelaltermärkte. Drei Jahre reiste er mit der Zunft durchs Land.
    Vor einigen Jahren saßen die Künstler abends zusammen. Jacek, ein russischer Jude, hatte seine Tageseinnahmen in einem Lederbeutel bei sich. Als er in ein Gespräch vertieft war, öffnete sein Nachbar heimlich den Beutel und faltete alle Geldscheine sauber zusammen. Später begann er in der Gruppe ein Gespräch darüber, wie man mit Geld umzugehen habe. »Jacek«, sagte er, »ich wette, du als Jude faltest dein Geld sauber, bevor du es in den Beutel steckst.«
    »Nein«, sagte Jacek, »bestimmt nicht.«
    Doch, sagte die Runde, sie wetteten um eine Flasche Whisky. Jacek öffnete den Beutel, sah das gefaltete Geld und zahlte den Whisky.
    Das Leben als Zeitreise gefiel Jörg von Winterfeld. Er empfand es als dynamisch, seine ersten Auftritte als Geschichtenerzähler kamen beim Publikum gut an, so blieb er dabei. Eine Kollegin erfand in Anspielung ans abgebrochene Studium den Künstlernamen Magister von Winterfeld. Der Magister verdiente mit dem Geschichtenerzählen bis heute so viel Geld, dass es für sein Leben reichte, und auch für das seiner Frau und der Kinder etwas blieb. Das Geschäft war aber härter geworden. Einige Gaukler und Musiker hatten sich schon eine andere

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