Vom Aussteigen und Ankommen
der Burg war teuer, und das Volk arbeitete nicht mehr so bereitwillig mit wie im Mittelalter.
Magister von Winterfeld trat hier häufig auf, bei Burgfesten, Ritterbanketten, an Silvester. In der mittelalterlichen Speisekarte stand, dass man seinerzeit auch Störche gegessen habe. Am Nachmittag setzte sich eine schwäbische Gruppe an unseren Tisch. Einer trug ein schwarz-rot-goldenes Armschwitzband, einer einen Strohhut, einer eine Homer-Simpson-Schirmmütze, es waren die ersten Gäste für das Ritterbankett.
Bier trinken, Kinder werden
In einem eichenrustikalen Saal mit Blick über das Neckartal stand der Magister im roten Gauklergewand. Achtzig Leute saßen an den Tischen, es gab Kartoffelsuppe in Brotschalen. Krächzig sprach Magister von Winterfeld einführende Worte: »Und deshalb, edle Fremde, fresst viel und sauft viel.« Die edlen Fremden klopften auf die Tische, fraßen und soffen.
Der Wirt testete die Kartoffelsuppe mit einem Pendel auf Giftstoffe. Ein Pendel – wie im Paradies in der Uckermark. Doch Reiner hatte es ernster genommen als es diese Saufgesellschaft tat. Zum zweiten Gang, Schweinebraten, sang Sen, der andere Künstler, ein Sackpfeifenspieler aus Mülheim an der Ruhr: »Alle, die zur Hölle fahrn, müssen Männer mit Bärten sein.« Der Sensenmann sang, einige filmten ihn mit ihren Handys. Wenn Foucault die Digitalkameras noch erlebt hätte, hätte er sie als das Instrument der finalen Trennung von Wahnsinn und Gesellschaft beschreiben müssen.
Im vergangenen Jahr war der Magister von Winterfeld von einem Bekannten, der beim Fernsehen arbeitet, überredet worden, an einer Castingshow bei RTL teilzunehmen.
»Ernsthaft oder Kanonenfutter?«, wollte der Magister wissen.
»Sehr ernsthaft«, sagte ihm der Bekannte.
Es gab billige Schnittchen und keine Gage. Der Gaukler trat auf die Bühne, und nach zwanzig Sekunden drückte eine Jurorin auf alle drei »Buzzer« gleichzeitig: das Signal, dass es reicht. Es reichte, genügte aber nicht. Der Magister war in der ersten Runde durchgefallen, er fuhr zurück nach Hause und war doch nur Kanonenfutter gewesen.
Ein Feuerjongleur trat auf. Wir sollten immer dann »Oooh!« rufen, wenn er eine brennende Fackel hochhielt, und »Iiii!«, wenn er eine Flasche voller Petroleum hochhielt. Meine Tischnachbarn, ein Rentnerehepaar aus Neubrandenburg, schauten auch zu, und der Rentner neben mir erlaubte sich einen Scherz, indem er rief: »Ioioio!« Seine Frau, eine Dame in blumiger Seidenbluse, nahm sich ihren Mann zur Seite und flüsterte ihm zischende Worte ins Ohr. Er schwieg und schenkte sich Wein nach.
Der Rentner hatte seine wenigen Haare mit Pomade nach hinten gekämmt. Als ich erzählte, dass ich kürzlich in Vorpommern gewesen sei, wollte er nur noch über Peenemünde sprechen, die deutsche Raketenschmiede vor 1945: »War schon der Hammer, was die deutschen Ingenieure damals schon draufhatten.« Kleinbürgermoral: Der Inhalt der Taten war zweitrangig, der Ruhm zählte, und wenn sich im Licht neuer Zeiten herausstellte, dass der Ruhm nicht berechtigt war, sind wir kleinen Leute halt mal wieder böse verführt worden. Wie berühmt Peenemünde gewesen sei, seine Heimatstadt, sagte er senil, dann erzählte er detailreich von den Vögeln aus seinem Garten. Dann wieder Raketenkunst. »Ingenieur Braun aus Peenemünde, Brrrraun, weltbekannt«, sagte er, »deutsche Ingenieurskunst, schon damals führend.«
Die Rentner waren mit ihrer Enkeltochter hier, die Ende zwanzig war und am Tischende saß. Nach dem Festmahl versuchte der Magister, mit ihr zu flirten. Sie drehte sich halb zur Seite und zog zu jedem Satz des Magisters ihre Augenbrauen hoch.
Ihr Opa war stolz auf sie. »Leistungssportlerin«, krächzte er. »War jetzt in Neuseeland. – Neuseeland!«
Sen sang. »Gefällt Ihnen die mittelalterliche Musik?«, fragte ich den Rentner aus Peenemünde.
»Na ja. Ich kenn das ja aus dem Fernsehen«, antwortete dieser.
Heute war Jörg von Winterfelds Geburtstag. Bis früh am Morgen feierten die drei Mittelalterkünstler, als der Klamauk vorüber war, auf der Burgterrasse mit Bier, Wein und Kräuterrittern. Der Magister wurde zweiundvierzig und sah einige Jahre älter aus. Auf einem anderen Fest schätzte ihn eine Studentin neulich auf siebenundfünfzig.
Sen trank Kräuterschnaps und sagte: »Früher waren wir alle die Klassenclowns, und heute sind wir auf der Bühne gelandet und fristen ein erbärmliches Dasein.«
Ich lief durch die Nacht den Berg hinab in die
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