Vom Aussteigen und Ankommen
Arbeit gesucht. Der Beruf des Gauklers vertrug sich nicht gut mit dem Familienleben. Der Magister arbeitete an Wochenenden, wenn Frau und Kinder zu Hause waren. Er verließ freitagabends das Haus, das Baby schrie. Während der ersten drei Schritte, die er das Treppenhaus hinunterging, dachte er: Freiheit! Doch beim vierten Schritt begann er ein schlechtes Gewissen zu bekommen. Nach ein paar Jahren kam die Scheidung. Sein Lebensprojekt Familie war gescheitert.
In einer Budengasse hatte eine Hexe ihr Zelt aufgebaut. Über dem Eingang hing der Totenschädel eines Tiers. Die Hexe bot auf einer Werbetafel eine Befragung des Pendels für einen Euro an. Ich ging ins Zelt und bestellte diese Dienstleistung, hatte aber vergessen, mir eine Frage ans Pendel auszudenken. Die Hexe schaute ungeduldig: »Was willst du denn jetzt wissen?«
»Bin ich auf dem richtigen Weg?«, fiel mir ein.
Die Hexe schwang das Pendel: »Ist er auf dem richtigen Weg?«
Das Pendel reagierte nicht, es hing schlaff wie eine weichgekochte Spaghettinudel. Dann kreiste es ein wenig. Das Pendel wolle jetzt nicht antworten, sagte die Hexe, es wolle ernst genommen werden, die Energien stimmten nicht. Wenn man es zwei-, dreimal derart missbrauche, flögen einem die Bretter um die Ohren, sagte die Hexe. Ich zahlte den Euro und ging.
Am nächsten Nachmittag lief ein fast nackter Mann mit wuschliger Schlaffrisur, Hasenzähnen und Lendenschurz von Tisch zu Tisch und sprach die Leute an. Es war der Magister von Winterfeld in seinem Sommerkleid.
Es war interessant, das Verhältnis vom Clown zum Bürger zu beobachten. Es gab verschiedene Arten an Reaktion auf die Annäherungen des Magisters. Der erste Typ reagierte gehemmt und abweisend. Diese Leute gingen etwas langsamer weiter, wirkten angespannt und lächelten halb höflich, halb hilflos. Der zweite Typ ignorierte das Auftreten des Clowns, änderte weder Laufgeschwindigkeit noch Gestik. Der dritte Typ wählte das distanzierte Auslachen. Er verschränkte die Arme vor der Brust, hörte sich die Sprüche an und lachte kurz und von oben herab. Typ vier versuchte, die Rollen zu verkehren, er schlüpfte selbst in die Rolle des Clowns und machte seinerseits seine Scherze über den Magister, es war ein peinliches Unterfangen. Typ fünf akzeptierte seine Rolle, blieb er selbst und entspannt, und der Clown blieb unangefochten Clown. Typ sechs reagierte aggressiv.
Die Zuhörer, für die der Magister seine Geschichten am liebsten erzählte, waren die Kinder. Sie hörten mit offenem Mund zu. Magister von Winterfeld ging toll mit den Kindern um.
»Dieser Moment der totalen Freude, der bedingungslosen Liebe für einen Moment, die Faszination in den Augen«, sagte er. »Kinder spiegeln so schön, mit ihnen zu reden ist, wie die Quelle wieder anzuzapfen, dann erinnert man sich an seine eigene Kindheit, und man merkt, da ging es nicht um Gedanken, sondern um Gefühle, um Wahrnehmung, um Unbefangenheit. – Faszinierend, was ich gerade sage. Das habe ich so noch nie gesagt.«
Zum einfachen Leben motivierte ihn vielleicht vor allem das: dass er dies als den einzigen Weg sah, nicht ganz aus der Welt der Kinder herauszuwachsen.
Ich dachte, ein bisschen Kind bleiben, sogar wieder wie eines werden, das sei im bürgerlichen Lebensentwurf schwierig. Das war Matriarchat. Das, was die Likatier, die ja immerhin viele Kinder hatten, auch selbst wollten: Kind bleiben. In der Kindheit empfängt der Mensch alles, was er zum Leben braucht, er kennt das Gefühl nicht, dass er für sein Leben etwas tun müsste, in der Schule ändert sich das langsam, aber nicht substanziell, mit dem Arbeitsbeginn dann radikal. Es gibt einen Zusammenhang mit der Fantasie. Wie stark beflügeln den Menschen seine Träume, wenn er noch empfängt? Wie stark war der Wunsch nach und wie intensiv waren die Träume von Nähe und Annäherung, wenn man verliebt war mit dreizehn, siebzehn, fünfundzwanzig? Wie ist das mit fünfzig? Wie stark war das Freiheitsgefühl, das man beim Gedanken an Reisen verspürte, mit dreizehn, zwanzig, dreißig? Je mehr der Mensch machen kann, seine Wünsche selbst erfüllen kann oder das meint zu können, desto stärker sinkt vielleicht das Glück, das die Wunscherfüllung bringt. Träume verlieren an Intensität. Keine Utopie. Das Leben verliert an Kraft. Je »unmachbarer« der ersehnte Zustand aber ist, desto intensiver der Traum davon. Das ist das Traurige: Bürger können nicht mehr träumen, weswegen sich immer wieder der
Weitere Kostenlose Bücher