Vom Aussteigen und Ankommen
denen ich wollte.
Ein junger Mann öffnete die Tür. Er hatte kurze blondrote Haare, ein rundes Gesicht, einen Dreitagebart und trug Sandalen, wirkte also sehr katholisch, rosig, wohlgenährt, lebensfroh: »Servus, ich bin Hans-Martin. Wir haben hier einen Hans und einen Martin, und ich bin der Hans-Martin. Ich bin übrigens dein Angelus. Wenn du Fragen hast, kannst du sie mir stellen.«
Hans-Martin ging vor. Die Flurdecken waren noch aus den fantasievollen zwanziger Jahren, himmelblau und mit silbernen Rauten. Wir gingen die Holztreppe hinauf, auf der ein unkomplizierter Teppich verlegt war.
Mein Zimmer empfing mich mit erwarteter Frömmigkeit. Kruzifix, Bibel, Jesuitenzeitschriften, ein Waschbecken aus Kunststoff. Ich fand die bürgerliche Aufgeräumtheit dieses Ortes exotisch.
In einem der vielen Räume der Villa war eine Kapelle untergebracht. Sie hatte Parkettboden, einen schlichten Altar, zwei Ikonen hingen an der Wand. Holzstühle standen im Oval. Hier trafen sich jetzt alle sechs Novizen und hier lebenden Patres zum Mittagsgebet. Auch ein älterer Nachbar, dessen Frau kürzlich verstorben war und der die Jesuiten um das gemeinsame Gebet ersucht hatte, nahm daran teil.
Ich betrachtete die Füße der Novizen. Fünf der sechs hatten Sandalen an, einer an den Zehen ausgeschnittene Lederslipper.
Die Novizen aus dem jüngeren der beiden hier lebenden Jahrgänge hatten mich für acht Tage als Gast angenommen. Jesuiten lebten oft in Gemeinschaften, doch jeder hatte seine eigenen Aufgaben in der Welt. So war der ältere Jahrgang zu Experimenten, also Arbeitswochen, im karitativen Bereich verreist, das kam häufig vor. Drei von den sechs aus meinem Jahrgang waren Deutsche: Hans Martin aus Bayern, der mich in mein Zimmer gebracht hatte, Christoph und Claus. Christoph war Anfang zwanzig und der jüngste Novize, Claus mit Ende vierzig der älteste. Claus war zwar vor seinem Eintritt in den Orden schon zwanzig Jahre Priester gewesen, aber Christoph, der nach dem Abitur hierherkam, sah priesterlicher aus als Claus. Er war blass, trug ein schlabbriges T-Shirt, hatte eine sonore Stimme und war offensichtlich sehr belesen, er sprang, wenn man mit ihm sprach, ohne geschwätzig zu werden, mühelos von Nietzsche (»… dem letzten aufrechten Gottessucher, ähn lich wie Jesaja …«) über Aristoteles zum Nahostkonflikt. Claus, der Priester, hingegen wirkte eher wie ein Geografielehrer nach den Sommerferien: dünn, groß, braungebrannt, mit einem Voll bart und Halbglatze. Dann gab es noch Hans aus Österreich. Der war ein bodenständiger Kerl vom Typ Skilehrer. Martin kam aus der Schweiz, war neununddreißig und hatte vorher schon als Richter gearbeitet. Der Schwede, Mathias, sah mit seinem dunklen Haar und Dreitagebart nicht aus wie ein Schwede, sondern wie ein Baske oder Italiener. Sie waren im Durchschnitt dreißig Jahre alt, also noch jung für Menschen, die sich für ein Priesterleben in Armut und Keuschheit entschieden hatten, aber andererseits waren die ersten bereits älter als Jesus, als er gekreuzigt wurde.
Sie hatten noch nicht ihre Gelübde abgelegt, aber für die Zeit des Noviziats das Versprechen, keusch, gehorsam und in Armut zu leben. Einige waren sicher Aussteiger: Sie hatten gutbezahlte Jobs oder die Beziehung zu ihrer Freundin aufgegeben, um hierherzukommen. Aber für Aussteiger wirkten sie andererseits brav: »Just normal«, sagte Josef Maureder, ihr Novizenmeister, immer dann, wenn er sie ärgern wollte.
Der Novizenmeister sah aber auch selbst sehr normal aus. Er hatte eine Konfirmandenfrisur – Zwei-Drittel-Seitenscheitel, graues Haar –, und auf seiner spitzen Nase lag eine goldene Brille. Pater Maureders dunkelblauer Pullover hatte Rautenmuster. Dieser Pullover sagte: »Wer mich trägt, ist ein fleißiger biederer Erdenbürger.«
Nach dem Gebet gab es Mittagessen in dem schlichten Speiseraum. Die Novizen sprachen ein Tischgebet und sangen vorher: »Maria, breit den Mantel aus.« So etwas Merkwürdiges hatte ich lange nicht mehr gesehen.
Ich legte mich ins Bett und schlief. Ich hatte kein Interesse an diesem Haus und seinen Bewohnern. Meine Toleranz für sonderliche Lebenskonzepte war in den letzten Wochen uferlos weit geworden, das war sehr anstrengend. Ich fühlte mich durch das viele Zuhören und die prinzipielle Offenheit entwurzelt und sehnte mich nach Schranken. Nur Zuhören, ohne mitzuteilen, wer man selbst war, das hielt kein Mensch aus, außer Jürgen Fliege.
Der Überdruss wollte drei
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