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Vom Aussteigen und Ankommen

Titel: Vom Aussteigen und Ankommen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jan Grossarth
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Wunden, die schwer sein mussten und offen. So waren Irre unter Armen, und darunter ein Jesuit, der auch arm sein wollte, und ein paar Sozialarbeiter. Alle aßen, und was ohne Zweifel gut daran war, war, dass jeder im Raum satt wurde.
    Auch ein Gottesdienst fand an dem Abend statt, aber nicht jeder, der mitaß, ging zum Beten. Der Gottesdienst fand in einem Raum im Erdgeschoss statt, Stühle standen im Kreis auf einem Perserteppich, neben dem Pater und Martin nahmen drei Nonnen teil sowie drei Obdachlose. Zwei waren ältere Männer, vielleicht sechzig, einer hatte Alkoholikerhaare, fettig, grau, akkurat zurückgekämmt, mit mächtigen Koteletten. Er schaute traurig und wirkte in sich gekehrt. Der andere Ältere hatte eine Schürfwunde am Ellenbogen, und seine Arme waren eine schöne Sammlung blauer Flecken und Tätowierungen, die kaum voneinander zu unterscheiden waren. Der dritte Obdachlose war im mittleren Alter und hatte eine bemerkenswert schiefe Nase. Einer der alten Jesuitenpatres aus unserer Kommunität leitete den Gottesdienst, Joe Übelmesser, Jahrgang 1932, der übrigens ein entfernter Verwandter von Emmi war, der Hechtköchin aus der Oberpfalz, was uns beide, Pater Übelmesser und mich, zu der Feststellung veranlasste, dass die Welt doch klein sei. Pater Übelmesser predigte, Jesus werde, wenn wir tot seien, an ihn und die anderen Priester mehr Fragen haben als an die Obdachlosen, so habe er es schließlich sein Leben lang gehandhabt. Eine Nonne lächelte, die Obdachlosen zeigten keine sichtbare Reaktion.
    Als Richter hatte Dr. Martin Sarbach etwa zehntausend Schweizer Franken im Monat verdient, als Novize Martin bekam er nur noch sechzig Euro. Bald wollte er einige Wochen pilgern gehen und hatte sich tags zuvor dafür eine Isomatte gekauft. Früher hätte er die beste genommen, jetzt das einfachste Modell, und selbst dafür musste er seinen Novizenmeister um dreißig Euro zusätzlich bitten. Er war neununddreißig. Die letzten Schuhe, die er in der Schweiz gekauft hatte, kosteten dreihundertachtzig Franken. Die ersten, die er sich in der Novizenzeit zulegte, kosteten fünfzig Euro. Da hatte er das erste Mal in seinem Leben eine Filiale von Deichmann betreten. Von außen sah er aus wie jemand aus der Mitte der Gesellschaft, aber sein innerer Weg war ein radikal anderer. Die Erfahrungen, die er mache, seien für Leute, die nicht glaubten, wohl nicht nachzuvollziehen, sagte er.
    »Es ist eine gute Erfahrung für mich, zu merken, dass sich die materiellen Dinge so schnell relativieren.«
    Nach zwei Stunden radelten wir zurück ins Novizenhaus. Ich fragte: »War das eine gute Tat, mit den Obdachlosen zu essen? Hat es irgendjemandem geholfen? Uns, den Obdachlosen?« Martin meinte, es habe zumindest niemandem geschadet.
    In den biblischen Geschichten verlaufen Jesu Besuche bei Aussätzigen immer weitaus spektakulärer. Sie fallen vor ihm nieder und bitten ihn um Heilung. Nun kommt ja auch ein Jesuit nicht in der Erwartung, dass sich die Irrenden vor ihm niederwerfen, sondern als Mensch zum Zuhören. Das haben wir auch getan, zwei Stunden lang Irrsinn mit geduldigem Lächeln quittiert. War das eine gute Tat? Man könnte auch sagen, dass wir nichts anderes gemacht haben, als den Armen ihre Suppe wegzuessen. Danach ging der Geistliche wieder ins Gebet und der Arme in den Suff – bis zum nächsten Mal. Der Nachfolgeweg, den die Jesuiten gehen wollen, ist schwer definierbar.
    Immer am Nachmittag haben die Novizen freie Zeit. Am nächsten Tag gingen wir durch den Stadtpark spazieren. Martin stammte aus einem katholischen Elternhaus im Kanton Solothurn und hatte fünf Geschwister. Als Kind betete er nicht wenig, ab der sechsten Schulklasse kaum mehr. Er besuchte ein mathematisches Gymnasium, studierte und promovierte in Jura, arbeitete dann als Richter am Bezirksgericht Zürich und saß für die Sozialdemokraten im Kommunalparlament. Er machte das gern, doch als an einem Tag ein junger Kollege Selbstmord beging, drängte sich die Frage nach dem Sinn in sein Leben. Er ging nun manchmal wieder in die Kirche, zufälligerweise eine Jesuitenkirche, und stellte fest, dass ihn das Gebet zu Tränen rührte, dann ging er regelmäßig.
    »Die Kirche war der Rahmen, in dem die Annäherung zu Gott geschah.«
    Irgendwann wussten seine Freunde, dass Martin am Sonntagabend keine Zeit hatte; sie wussten aber nicht, was er in dieser Zeit tat. Er saß im Gottesdienst, doch behielt er das erst mal für sich. Ihm schien ein zartes

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