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Vom Aussteigen und Ankommen

Titel: Vom Aussteigen und Ankommen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jan Grossarth
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jugendliche Protest ihrer Kinder gegen sie richtet, die dann selbst so werden wie sie. Können sie denn noch von Gott träumen? Oder soll es genauso sein, wie es ist, müssen wir erwachsen werden in dem Sinn? Die Religiösen sagten in vormodernen Zeiten, Arbeit sei die Strafe Gottes für die Ursünde, und wenn es so wäre, dann musste der Mensch das Kindliche, dieses Leben, in sich verlieren, damit er umso mehr aufs Paradies hoffen darf, und dann waren die Likatier auf einem Irrweg. Ich hatte mal eine Laudatio auf einen Unternehmer des Jahres gehört. Der Laudator sagte, es gebe drei Arten von Menschen: Unternehmer, Unterlasser und Verhinderer. Das Ideal war also der Macher, das Gegenteil vom »Empfänger«. Aus eigener Kraft seinen Weg machen, das Bildungsideal, wenn man Bildung als Mittel zum Zweck dafür sah: der bürgerliche Idealweg. Aber der verächtliche Umgang mit den »Empfängern« (»Versagern«, »parasitären Existenzen«, »Unterlassern«), den der Bürger pflegt, zeigt, wie viel Ressentiment in seinem zur Schau getragenen Selbstbewusstsein steckt. Manche Aussteiger wollen Empfänger bleiben und haben in einer bürgerlichen Welt, die in ihrem Umgang mit Zigeunerexistenzen eine subtile Tendenz zum Totalitären offenbart, oft keine andere Wahl. Vielleicht könnten Aussteiger mehr Utopie verwirklichen, wenn es mehr von ihnen gäbe, zum Beispiel eine Gesellschaft schaffen, die ein halbes Jahr arbeitet, die andere Hälfte empfängt. Die Bürgermoral steht dem mächtig entgegen, die Moral, die Arbeit – und zwar losgelöst von ihrer Sinnhaftigkeit – als einen Wert an sich interpretiert.
    Dazu hat auch Ilse Aichinger ein wunderschönes Buch geschrieben über jüdische Kinder im Nationalsozialismus und ihre bunte Welt, ja ihre bunte Welt: Die größere Hoffnung. Die Kinder, verfolgt und in aussichtsloser Lebensgefahr, sind in diesen Geschichten die Lebendigen, denn sie hoffen noch:
    Keines der Kinder dachte mehr daran, zu fliehen. Mit einem Schlag waren sie in der Offensive, unbekannte Macht entströmte ihrer Machtlosigkeit. Der babylonische Turm wankte in dem leisen Zittern ihrer Atemzüge. Feuchter regenschwerer Wind kam von Westen über das Wasser, der befreiende Atem der Welt. (…) Und wenn ihr uns verboten habt, das Kommende zu erwarten: Wir erwarten es doch.
    Die SS-Schergen, Wächter und Angepassten erscheinen als grau, leblos, gefesselte Existenzen, für die es keine Hoffnung mehr gibt: »Stiefelschritte zertraten den Kies, sinnlos und so selbstsicher, wie es nur die Schritte der Verirrten sind.«
    Kein Geist der Utopie mehr. Ernst Bloch schrieb zu seinem Buch ein Vorwort, das man noch heute nehmen könnte:
    Ein stickiger Zwang, von Mittelmäßigem verhängt, von Mittelmäßigen ertragen; der Triumph der Dummheit, beschützt vom Gendarm, bejubelt von den Intellektuellen, die nicht Gehirn genug auftreiben konnten, um Phrasen zu liefern. Und dies allein ist wichtig. Wes Brot ich ess, des Lied ich sing. Aber dieses Versagen vor dem Kalbsfell war doch überraschend. Das macht, wir haben keinen sozialistischen Gedanken. Sondern wir sind ärmer als die warmen Tiere geworden; wem nicht der Bauch, dem ist der Staat sein Gott, alles andere ist zum Spaß und zur Unterhaltung herabgesunken. Wir bringen der Gemeinde nicht mit, weswegen sie sein soll, und deshalb können wir sie nicht bilden. Wir haben Sehnsucht und kurzes Wissen, aber wenig Tat und, was deren Fehlen mit erklärt, keine Weite, keine Aussicht.
    Der Magister von Winterfeld zog sich wieder sein rosarotes Gauklergewand an, bestellte ein weiteres Bier und drehte sich eine Zigarette. Wir wollten ja alle mal werden wie Hesses Steppenwolf, der Magister von Winterfeld hat es geschafft. Am Abend saßen wir auf der Terrasse, und unten leuchteten die Dörfer.
    Es überraschte mich, dass sich der Magister von Winterfeld selbst als sehr bürgerlich sah: »Ich habe nie im Leben Knappheiten kennengelernt. Ich lebe großzügig, ich gehe in den Bioladen einkaufen, obwohl ich es mir eigentlich nicht leisten kann. Fast alle Künstler kommen aus einem bürgerlichen Elternhaus, ich auch. Das Grundgefühl ist ein sattes, unsere Grundlage ist eine satte. Und übrigens habe ich positive Assoziationen zum Milieu des Bürgers: die Gewissheit, dass es gut und wichtig ist, auch Menschen mit einer anderen Meinung zuzuhören, die Zuneigung zur Literatur und Kunst.«
    Solch ein Steppenwolf funktionierte ja nur als Gegenmodell, wie alle romantischen Figuren; Einzelgänger, die

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