Vom Aussteigen und Ankommen
Tage nicht von mir weichen. Ich aß und betete mit, doch erst am Mittwoch, als ich das Gefühl bekam, dass die Jesuiten das Gefühl hatten, ich interessiere mich überhaupt nicht für sie, erwachte zum Glück wieder mein Interesse für sie. Ich fragte mich, was sie dazu bewogen hatte, zu den Jesuiten zu gehen, wie schwer ihnen der Verzicht auf ihr altes Leben fiel, wie ihr altes Leben war. Als ich sie Monate vor meinem Besuch erstmals kontaktiert hatte, waren sie bezüglich meines Besuchs skeptisch gewesen. Als wir wenig später wieder in Kontakt kamen, waren sie noch misstrauischer, denn der Jesuitenorden war in dieser Zeit Gegenstand vieler Medienberichte über Fälle von sexuellem Missbrauch in Jesuitenschulen; und da konnten sich die Novizen wohl kaum vorstellen, dass an ihrem Orden etwas anderes für die Öffentlichkeit interessant sein würde als dieses Thema. Dann luden sie mich ein, einen Vortrag über mein Vorhaben zu halten, fanden den Gedanken interessant, dass sie Aussteiger seien wie Waldmenschen und Selbstversorger, und waren einverstanden.
Wir essen den Armen die Suppe weg
An dem Abend, an dem mein Interesse wiederauferstanden war, durfte ich Dr. iur. Martin Sarbach zu seinem Experiment begleiten. So hießen wie gesagt die Nachmittage oder Abende, an denen die Novizen in karitativen Projekten mitarbeiteten: Altenpflege, Gefängnisseelsorge, Hausaufgabenhilfe. Dies mach ten sie regelmäßig, Martin half in einer Küche bei der Obdachlosenspeisung.
Martin Sarbach hatte eine sehr schlanke Figur, ein spitzes Gesicht, gutmütig blickende braune Augen. Er sprach mit schweizerdeutschem Einschlag. Wir fuhren mit Fahrrädern zu den Obdachlosen.
Vierzig Arme saßen in einem Raum voll stickiger Luft. Die Obdachlosen gingen zur Essensausgabe, wo sie ein Tablett voller Nahrung für einen Euro bekamen. Hier war ganz Nürnberg versammelt: Alt, Jung, Frau, Mann. Es roch nach Schweiß und Zigarettenrauch, und Asche lag in Trinkgläsern, die auf den Tischen standen, an denen so viele Gezeichnete saßen, wie ich sie nie an einem Ort gesehen hatte. Sie luden sich fettige Nudelsuppe auf ihre Tabletts, Wurstsalat, Schweinebraten, Knödel, Kuchenreste, alte Brötchen, Spenden einer Großbäckerei. Manche nahmen sich von jeder Speise einen Teller, ein gutes Pfund Nahrung. Es sah so aus, als äßen sie nur dieses eine Mal am Tag. Mir gegenüber saß ein Mann, dessen Stimme rau war und der sich permanent an seinen rot angelaufenen Unterarmen kratzte.
»Was hast da?«, fragte ihn sein Nebenmann.
»Krätze«, krächzte er.
Ein Gast am Nebentisch sprühte seine Nebenleute mit billigem Kokos-Deo ein und lachte darüber sehr laut, die Luft im Raum wurde immer schwüler, hatte jetzt aber auch etwas von Südsee. Ein stickiger Raum voller Irrsinn.
Novize Martin nahm sich nur eine Nudelsuppe. Er saß an einem anderen Tisch neben zwei Pennern, aß die Suppe manierlich auf, aber nahm nichts nach, und sprach immer mal wieder einen Satz mit den Obdachlosen. Er und die Bedürftigen kannten sich offensichtlich, hatten sich aber nicht viel zu sagen. Da saß Martin Sarbach, so wie er noch vor zwei Jahren mit Richtern und Staatsanwälten in Zürcher Gerichtskantinen gesessen hatte, und stocherte etwas ratlos in fettiger Suppe.
Ich konnte nicht weiteressen, die schwitzige Luft, der süße Kokosgeruch und die Aussicht auf die Krätze schnürten mir den Magen zu. Ich ging auf die Terrasse und setzte mich an einen großen Tisch. Acht andere Gäste saßen da auch, ein Mann gönnte seinem Oberkörper alle Freiheit und trug langes Jesushaar, das über die nackten Schultern wallte. Er unterhielt den ganzen Tisch mit Wortspielen: »›Afrika‹ – ›Af-Aff‹ –, das kommt von ›Affen‹«, sagte er. Und wenig später: »›Emirat‹, ›E‹ – also ›A, Al‹ –, das heißt ›Gott, Allah‹.«
Neben ihm saß ein zahnloses Weib, dessen Pupille nach jedem Wortspiel ihres Nachbarn wild zu kullern begann. Ein Türke am Tisch aß so schnell und konzentriert, als habe er seit einer Woche kein Essen mehr bekommen. »Du bist Moslem und frisst Schwein, du kommst in die Hölle«, krakeelte ein stark tätowierter Mann, dem ein Schneidezahn abhandengekommen war.
»Ach was, Hunger, muss esse«, sagte der Türke.
Ich sagte kein Wort, denn mir fiel keins ein.
Drinnen gleich hinter der Glastür saß Martin, und ich sah, dass er jetzt auch nichts mehr sagte. Die Obdachlosen waren gezeichnet von ihrem Obdachlosenleben, aber auch von seelischen
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