Vom Aussteigen und Ankommen
Pflänzchen zu wachsen, das noch geschützt werden musste. Er wollte sich noch nicht den Meinungen der anderen aussetzen.
Auszubrechen aus der bürgerlichen Schiene, in der er sein ganzes Leben gefahren war, reizte ihn indes unterschwellig schon lange. Immer wenn er durchs Schweizer Mittelland fuhr und die Einfamilienhäuschen sah, die einander glichen wie Legohäuschen, fühlte sich das für ihn so an, wie er sich eine leichte Depression vorstellte.
Er arbeitete immer noch gern, ging weiter fein essen und kaufte sich Kleidungsstücke, die so teuer waren wie ein Hartz-IV-Monatseinkommen. An einem Sonntagabend las er im Pfarrblättchen einen Text über den Heiligen Geist, den eine Theologieprofessorin geschrieben hatte. Sinngemäß: Lass dich vom Geist auf unbequemes Terrain führen. Das ging ihm nicht aus dem Kopf, er dachte plötzlich darüber nach, Priester zu werden, besuchte die Professorin, redete lang mit ihr darüber und entschied sich dafür, die Arbeit ruhen zu lassen und ins Priesterseminar Chur einzutreten. Seine Freundin weinte. Seinem Bruder sagte er es am Telefon: »Es gibt Neues, du musst dich setzen.«
»Was, du wirst Vater?«, fragte sein Bruder, ein Betriebswirt.
»Nein, ich gehe ins Priesterseminar«, sagte Martin.
Der Bruder musste sich dann wirklich setzen. Erst am nächsten Tag rief er wieder an und sagte seinem Bruder, er bewundere dessen Unternehmergeist. Die Kollegen vom Gericht staunten, viele sagten: »Das ist schon in Ordnung, wenn es dir guttut und dein Weg ist.« Das Gönnerhafte in dieser Aussage störte Martin.
Er legte auch sein Stadtratsmandat nieder. »SP-Politiker geht ins Priesterseminar«, stand am nächsten Tag auf den Werbeplakaten an den Zeitungskästen des Tages-Anzeigers . Besonders die Politiker der Christlichen Volkspartei hätten sehr befremdet reagiert, sagte Martin. Die Sozialdemokraten fanden es gut, dass er seine Sache durchziehe, waren von der Sache aber nicht so angetan.
Im Freundeskreis war es ähnlich. Einige Freunde überspielten ihre Hilflosigkeit, indem sie die Frequenz von Kirchenwitzen erhöhten. »Warum muss auf jedem Gipfel so ein Scheißkreuz stehen?«, fragte einer beim Wandern. »Nur weil du gerade Stress mit deiner Freundin hast, musst du ja wirklich nicht ins Priesterseminar«, sagte ein anderer. Martin Sarbach erschreckte sich nicht nur darüber, dass seine Freunde ihn nicht verstanden, sondern viel mehr noch darüber, dass sie keine Fragen stellten, um ihn zu verstehen.
Wir saßen auf einer Parkbank und blickten auf den Ententeich. Ein junges Teichhuhn folgte seiner dicken Mutter krakeelend über das Grün des widerlichen Wassers nach.
Dann war Martin nach Chur gezogen. Auch im Priesterseminar wuchsen die Bäume nicht in den Himmel. Martin war da, um Gott zu finden, und hatte dafür sein Leben eingefroren. Doch die meiste Zeit wurde in den Seminaren über uninteressante Details der Liturgie gestritten. Er war nach einigen Monaten so weit, dass er ernsthaft darüber nachdachte, sich als Einsiedler in eine Berghütte zurückzuziehen. Im Gottesdienst flossen keine Tränen mehr. Es war ein trostloser Winter, und in Zürich konnte er sich auch noch nicht wieder blicken lassen.
Auf den Frühling war Verlass, er brachte Krokusse und Gott und Klarheit. Von den drei Optionen Berghütte, Priesterseminar oder Jesuitennoviziat entschied er sich für die Gesellschaft Jesu.
Im September begann das Noviziat wieder mit Konflikten: Es fiel ihm schwer, auf die Freiheit zu verzichten, selbst zu bestimmen, was er sich kaufte, keinen Urlaub mehr zu haben, nicht mehr verreisen zu können, wohin er wollte. Manchmal gönnte er sich jetzt noch die Illusion, die alten Freiheiten zu haben. Dann setzte er sich am Sonntag oder Donnerstag, dem freien Tag in der Novizenwoche, für einen halben Tag mit einem Buch in ein Straßencafé. Diese kleine Freiheit genoss er mehr als die große, die er früher hatte. Die Frage, ob er ein Leben lang keusch leben könne und wolle, hatte er noch nicht beantwortet.
Jeder Tag eines Jesuiten begann um 6.30 Uhr mit einer geistlichen Betrachtung von einer Stunde. Man las für sich eine Bibelstelle oder eine aus den ignatianischen Betrachtungen, Satz für Satz, dazwischen schwieg man Minuten, in denen man sich alles sinnlich vorstellte: Wie sah Jesus aus, wie der Raum, der Engel? Wie klangen die Stimmen, rochen die Orte? So wie ein Baby die Welt über die Sinne und nicht mit dem Verstand erfuhr, so sollten die Menschen Gott
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