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Vom Dorf - Abenteuergeschichten zum Fest

Titel: Vom Dorf - Abenteuergeschichten zum Fest Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antje Rávic Strubel
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den man sich aus grünen Armeekübeln in |119| die Plastetassen füllte, an den Frühsport mit Musik und an das Fahnenhissen während der abendlichen Vergatterung; ein Wort, das unsere Tischnachbarn aufschnappten, ohne damit etwas anfangen zu können.
    Während wir uns unterhielten, sah ARS mich mit so tiefem Einvernehmen an, daß meine Wut lächerlich und kleinlich wirkte.
    Im Überschwang nahm ich ihre Hand. Ich hielt sie fest und fragte ARS, ob sie nicht gelegentlich mit mir etwas trinken gehen wolle, um das Gespräch in Ruhe fortzusetzen. Sie zog ihre Hand weg, sah mich irgendwie irritiert an und hob das Glas. Sie ließ den Rotwein kreisen, und ich sah kommen, daß sie einen Rückzieher machen würde.
    Sie wandte sich an die anderen und sagte laut: »Ich verstehe das nicht. Warum wollen eigentlich alle immerzu was trinken gehen? Woher nehmen sie die Zeit, dauernd was trinken zu gehen? Trinken wir nicht schon hier?«
    Es kostete Mühe, freundlich zu bleiben. Und doch fragte ich: »Würden Sie mir nicht noch mehr über sich erzählen wollen?«
    »Nein«, sagte sie. »Aber betrinken Sie sich ruhig!« Sie bestellte Wein und setzte sich woanders hin.
    Damals war das ein Schlag. Mittlerweile nehme ich an, sie wird ihre Gründe gehabt haben. Sie ist ein diskreter Mensch. Sie wollte das, was zwischen uns unweigerlich zu spüren war, nicht offen zur Schau stellen.
    Wenn die Weihnachtsgeschichten veröffentlicht sind, wird ARS dieses Gespräch wieder einfallen, wie auch all die anderen, die zwischen Potsdam und Eckernförde immer zu früh abgebrochen wurden. Und dann wird sie sie fortsetzen wollen. Ich muß dringend einen Verlag ausfindig machen!
    Der Öffentlichkeit gegenüber wird sie nicht abstreiten |120| können, daß sie die Weihnachtsgeschichten geschrieben hat. Ein Buch, das unter ihrem Namen erscheint, kann unmöglich nicht von ihr stammen. In den Augen der Leser würde das aussehen, als könne sie sich als Autorin nicht an das erinnern, was sie schreibt, und das würde sie unglaubwürdig machen. Und selbst wenn sie beweisen könnte, daß die Weihnachtsgeschichten nicht von ihr sind, würde ihr das nichts nützen. Es würde alle ihre anderen Bücher in Frage stellen. Wenn sie das eine nicht geschrieben haben will, wie kann man dann sicher sein, daß die anderen von ihr sind?
    Ihr wird nichts anderes übrigbleiben, als sich an etwas zu erinnern, das nicht passiert ist! Sie wird sich daran erinnern müssen, diese Geschichten geschrieben zu haben. Im Grunde erfüllt sich damit das, was sie am Abend unserer ersten Begegnung sagte:
Können Sie sich immer nur an Dinge erinnern, die tatsächlich passiert sind?
Es ist ja nicht so leicht, diesen Satz auf Anhieb zu verstehen.
    Es ist schwierig, sich vorzustellen, daß ein Teil dessen, woran man sich erinnert, nicht zu einem selbst gehört. Ich habe mich oft gefragt, wozu oder zu wem es dann gehört. Und wie es sich unbemerkt dazu gesellt hat. Nach längerem Überlegen begreift man allerdings, daß es öfter Situationen gibt, bei denen nicht mehr zu unterscheiden ist, ob man es einmal erlebt hat oder nur erlebt haben könnte.
    Ich erinnere mich an ein Gespräch, das an einem regnerischen Tag in einem eisgrauen Büro lange vor der Wende stattfand. Der Regen ist sehr deutlich in dieser Erinnerung, er liegt wie ein Schleier über dem Zimmer und über dem Gespräch. Schalldämmplatten klebten an der Decke. Ein Sportwimpel schwang an einem Ständer auf dem Schreibtisch hin und her. Sie fragten nach dem eigenen Leben und nach dem Leben der Nachbarn, nach dem der Kollegen |121| und dem der Freunde. Ich kann mich an das Gefühl einer überwältigenden Trostlosigkeit erinnern. Aber ich weiß nicht mehr, ob ich das fühlte, oder ob mir jemand von dieser Trostlosigkeit in einem solchen schallgedämmten Raum erzählt hatte; was von beidem die Erinnerung an diesem Raum bewirkte.
    Wenn die Weihnachtsgeschichten veröffentlicht sind, werden nur zwei Menschen die Wahrheit kennen. Keiner der beiden würde allerdings ein Wort darüber verlieren. Ich nicht, weil dieses Geheimnis eine intime Verbindung ist, die helle Stelle in diesem Haus und am Horizont. Und ARS nicht, weil sie ihre Karriere nicht riskieren kann.
    Nur wir beide, sie und ich, wissen, daß im Bekenntnis zu den Geschichten ein Bekenntnis zu ihrem wahren Verfasser steckt. Eine Art Hingabe. Die Hingabe zu einem Unbekannten, der dieselbe Sprache spricht.
Him or her I shall follow.
    Unbekannt, aber von nun an Teil ihrer Erinnerung.

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