Vom Dorf - Abenteuergeschichten zum Fest
Stadt. Das muß eine erfolgreiche Methode gewesen sein. Hat sich herumgesprochen. Sonst haben sie aus Ostzeiten ja nicht so viel übernommen.«
»Der Herr lasse sein Antlitz leuchten über dir und sei dir gnädig«, sagte der eine Müllsack.
»Das sagt er jetzt nur, weil er mal Internetpfarrer war«, sagte sein Nebenmann. »Aber alle haben seine Gottesdienste immer schwarz runtergeladen. Wie willste da überleben.«
»Spirituell überleben«, sagte der ehemalige Pfarrer.
»Nur, daß sich statt der Nationalen Volksarmee heute die Stadtreinigung mit Leuten wie uns befaßt«, sagte meine Freundin.
»Wer ist uns«, fragte ich.
»Wer iss wir«, hatte meine Freundin gesagt, als auf einer Montagsdemo zum ersten Mal die Plakate mit dem Slogan
Wir sind das Volk
aufgetaucht waren. »Würd ick schon mal jerne wissen.« Dann war sie nicht mehr auf Montagsdemos gegangen.
»Wer ist uns«, sagte ich nochmal.
|114| »Hast du nicht gemerkt, daß ich die Frage schon beim ersten Mal ignoriert habe«, sagte meine Freundin. »Habt ihr’s nicht gemerkt?« fragte sie in die Runde.
»Doch, klar«, sagte der Junge.
»Klaro«, sagte der Taschenspieler.
»Interessiert uns aber trotzdem«, sagte die Frau und tauchte aus ihrer Papiertüte auf.
»Klaro«, sagte der Taschenspieler.
Meine Freundin lächelte. Oder es war nur die rote Plane, die sich auf ihrem reglosen Gesicht spiegelte und ihm einen freundlichen Ausdruck gab. Es war schwer, dieses künstlich belebte Gesicht auszuhalten, vor allem, weil es ihr Gesicht war, das Gesicht, das mich seit Jahren an mich erinnerte, mir Sicherheit gab, das Gesicht, wegen dem ich überhaupt, wie ich manchmal dachte, noch da war. Normalerweise wäre ich nie so weit gegangen, das zu denken, aber in diesem Moment auf der Fahrt ins Nichts kam es mir nicht mehr so weit vor.
»Als ich Weihnachten mit meiner besten Freundin verbrachte«, hörte ich mich sagen. »Als ich Weihnachten mit meiner besten Freundin verbrachte, fuhren wir weit hinaus in den Schnee.« Der Alte legte den Kopf zurück, die Jungs hatten sich im Schneidersitz einer vor den anderen gesetzt, die Frau stellte ihre Papiertüte ab.
»In den Schnee«, sagte ich, ohne zu wissen, wie es weiterging, bisher hatte immer meine Freundin die Geschichte entworfen und dann auch weitergemacht. »
Wo Sterne hoch die Kreise schlingen
... Jedenfalls war es eine sternenklare Nacht. Und dort, wo die Luft am hellsten und der Schnee am tiefsten war, hielten wir. Wir wollten stehen und schauen und feierlich sein. Aber dann trafen wir eine Gruppe auf dem Feld. Zehn, zwölf Menschen, die irgendwie übriggeblieben waren. Verloren. Ausgesetzt. Vorsichtshalber |115| nahm ich meine beste Freundin an die Hand. Ich hielt sie sehr fest. Ich hatte Angst um sie.« Ich sah meine Freundin an. »Ich hatte Angst, sie zu verlieren. An diese Leute. Mit ihren verwitterten, zerfurchten Gesichtern. Sie sahen unheimlich aus.«
»Daß wir uns da mal nicht falsch verstehen«, sagte der Taschenspieler. »Ich finde mich hier nicht gut getroffen.«
»Jetzt halt mal die Klappe, Mensch«, sagte meine Freundin überraschend ungnädig. »Willst du’s nun hören oder nicht. Na also. Dann paß auf. Diese Leute nahmen uns in ihre Mitte, und nach einer Weile sahen sie nicht mehr so unheimlich aus. Das Unheimliche verfliegt mit der Zeit. Sie hatten Feuer in einer Tonne gemacht. Ein Rabe saß über ihnen im Baum. Einst waren sie Unterweltler gewesen, sie hatten in Hinterhöfen und Abstellräumen gelebt, sie hatten heimlich Flugschriften formuliert und gedruckt und sie verbreitet und getauscht und gaben illegale Blätter heraus, sie schrieben Artikel gegen die Staatsgewalt und wurden festgenommen und gerieten bei Freilassung unter Spitzelverdacht. Und immer erreichten sie wenig.
Dann hatte es eine große Unruhe gegeben, die hatte schließlich auch sie erfaßt, und man hatte sie hervorgeholt aus ihren Unterschlupfen, auf daß man sie zähle und begutachte, ob sie redlich oder schlecht, ob sie brauchbar oder nutzlos für das Kommende seien, denn es lebten jetzt doppelt so viele Menschen in einem Land. Und man ließ sie erzählen vor laufenden Kameras und schätzte das Erzählte ein und konfrontierte sie mit den Einschätzungen, was sie erneut erzählen ließ, um die Sache richtigzustellen, bis man ihrer überdrüssig wurde und alles langsam wieder vergaß. Sie lebten dann eine Weile am Rand. Aber irgendwann wurden die Ränder in die Mitte der Stadt verlegt, und sie wurden vertrieben.
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