Vom Dorf - Abenteuergeschichten zum Fest
nicht, was gewesen sei, sie interessiere nur, was jetzt werde.
Bei einem unserer Versuche, wir standen vor einem Zierteich, aus dem unser Gesprächspartner gerade eine Froschleiche zog, verließ mich die Lust. Ich fragte mich, was ich mit den Nachforschungen eigentlich bezweckte. Ich wußte doch, wer der Autor war. Ich hatte ihn gesehen, ich hatte mit ihm gesprochen. Ich zweifelte ja nicht plötzlich daran, daß er existierte. Wollte ich ihn zur Rede stellen? Aber wozu? Um ein unangehmes Gespräch im Leben mehr zu führen? Um ihn erneut auf meine Fährte zu locken, wo die Dringlichkeit vielleicht gerade im Abklingen war? Wir unterbrachen die Suche, noch bevor die Froschleiche aus dem Kescher rutschte.
Für die Offenlegung des Betrugs ist das, was der Betrüger in den Protokollen über sich – und natürlich über mich – preisgibt, Information genug.
Ich möchte an dieser Stelle noch einmal ausdrücklich darauf hinweisen, daß ich zwar tatsächlich, wie der Betrüger behauptet, meinem Bruder jedes Jahr eine Weihnachtsgeschichte schreibe, die dann unter dem Weihnachtsbaum vor der versammelten Familie verlesen wird, daß es sich bei den vorliegenden Texten aber keinesfalls um diese handelt. Den Versuch, meinen Stil täuschend echt nachzuahmen, halte ich für mißglückt. Aus diesem Grund ist es mir am Ende nicht ganz so schwer gefallen, mich zu einer Herausgabe dieser Fälschungen zu entschließen.
Nach langer Überlegung stimmten wir darin überein, daß es nur dann für Außenstehende interessant wäre, wenn die Weihnachtsgeschichten und die Protokolle gemeinsam veröffentlicht werden würden, auch wenn das den Plänen des eigentlichen Urhebers zuwiderlaufen dürfte.
|11| Die Protokolle auszuklammern, hätte bedeutet, das Publikum einer Täuschung aufsitzen zu lassen. Es gibt in jüngster Zeit öfter Bücher, bei denen sich am Ende herausstellt, daß große Teile darin von Romanen bekannter Autoren abgeschrieben oder ihnen schamlos nachempfunden worden sind. Mit dem Abdruck der Protokolle wird dieser Täuschung vorgebeugt. Es wird möglich, hinter die Kulissen des Betrügers zu blicken. Das Buch kann auf diese Weise außerdem Zeugnis geben von der heute immer stärker um sich greifenden Urheberrechtsverletzung, dem Diebstahl geistigen Eigentums.
Ich habe nichts verändert, gelöscht oder hinzugefügt, auch wenn Details meines Lebens offenbar werden, die ich über das Private hinaus nicht unbedingt für interessant halte. Aber es geht mir darum, den Vorgang so originalgetreu wie möglich abzubilden. Deshalb muß auch der perfide Plan des Fälschers, das Buch unter meinem Namen zu veröffentlichen, berücksichtigt werden. Die Bloßstellung wird verhindern, daß er darin eine späte Genugtuung sehen könnte.
Mein einziger Eingriff als Herausgeberin bestand darin, der besseren Lesbarkeit halber die Weihnachtsgeschichten nach Motiven und Themen sortiert den Protokollen zuzuordnen.
Antje Rávic Strubel,
München im November 2007
P.S.: Ich bedanke mich bei Thomas Trautwein und Heiko Liehr für die freundliche Unterstützung.
|12| Wie es war im Anfang
Meine Freundin sagt immer: »Die Rellijon is mit m letzten Krieg druffjejangen und die Ideolojie mit da Mauer. Heute renn se zur Lafsparät und kieken Schtar Treck, und ihre Familienfotos packen se ins Internet.«
In unserer Familie haben wir uns etwas Besonderes ausgedacht. Wir haben die Weihnachtsgeschichtentradition eingeführt. Mein Bruder hat sie eingeführt, und ich mußte mitmachen. Jedes Jahr zum Fest soll es eine neue Weihnachtsgeschichte geben, und mich hat man zur Weihnachtsgeschichtenschreiberin gemacht, zur Weihnachtsantje Auguste. Das ist sehr schön, und alle liegen dann unter dem Weihnachtsbaum, die Beine übergeschlagen, vom Punsch leise benebelt, und freuen sich, daß es wieder soweit ist. Es gibt nur ein Problem. Weihnachtsgeschichten haben den Nachteil, daß man sie immer schon kennt.
Von Gänsebraten erwartet man keine Überraschungen. Die sollen jedes Jahr ganz exakt genauso sein wie im Jahr zuvor, mit Pflaumen und Kastanien gefüllt, mit knuspriger Haut, Sauerkraut oder Grünkohl, um die festlich vorgefühlte Besinnlichkeit im Erfüllungsmoment nicht zu enttäuschen.
|13| Bei Geschichten ist das anders. Bei Weihnachtsgeschichten sowieso. Man möchte zwar gewisse Dinge wiedererkennen, sie sollten zum Beispiel nicht im Hochsommer auf Rügen oder in einer fernen Kultur spielen, in der es Weihnachten nicht gibt,
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