Vom Dorf - Abenteuergeschichten zum Fest
jetzt legte.
Auf meinem Platz hinter den Himbeerbüschen war ich nicht besser als ein Voyeur. Ich stand ganz still, ich versuchte flach zu atmen, damit mich die Atemspur in der kalten Luft nicht verriet, und es kam mir nicht in den Sinn zu gehen.
In der Ferne waren Mopeds zu hören.
Ihr heuschreckenartiges Summen schluckte das Krachen, das hin und wieder dunkel durch die Eisschicht lief. Vier Jungen tauchten am Waldrand auf. Sie ließen ihre Mopeds über die Böschung springen und steuerten ohne zu bremsen hinaus auf den See. Sie gaben Gas, ihre kleinen Maschinen jaulten und brachen seitlich aus. Die Mädchen waren aufgesprungen.
Schlitternd legten die Jungen einen Kreis um sie und zogen ihn langsam enger, während die Mädchengruppe genauso langsam auseinanderfiel. Jede von ihnen sah jetzt in eine andere Richtung, sie folgten den Mopeds, wobei der Abstand zwischen ihnen größer wurde. Sie drängten nach außen, während die Jungen sie immer enger umkreisten.
Schließlich legten sie mit ihren Mopeds eine effektvolle |194| Schleuderkurve hin, die den Schnee nach hinten wegstieben ließ. Sie bremsten, nahmen den Gang heraus und stellten den Motor nachlässig am Zündschlüssel ab.
Sie hockten auf ihren Zweirädern; dünne, sperrige Gestalten in Bomberjacken und grünen Kutten, und warteten scheinbar desinteressiert, daß die Mädchen herübergeschlendert kamen. Die Mädchen ließen sich Zeit. Aber so langsam sie auch gingen, sie strebten jede auf ein Moped zu. Voneinander nahmen sie kaum noch Notiz, sie sahen nicht zurück, sie bewegten sich wie auf Stelzen. Als sie ihr Ziel erreicht hatten, schlug einer der Mopedfahrer einem der Mädchen auf den Hintern, daß es kreischte. Es war ein künstliches Kreischen, es klang geschraubt und höher als das von vorhin, als sie aufs Eis gefallen war.
Vier Paare bildeten sich vor dem kalt aufragenden Horizont. Sie standen nicht weit voneinander, aber sie ergaben keine Gruppe mehr. Schon war auch diese Gruppe, diese Gemeinschaft auseinander gefallen. Und erst jetzt fiel mir auf, daß es nur fünf Mädchen waren. Damals, an jenem warmen Herbsttag, waren sie zu sechst gewesen. Wenn es sich tatsächlich um dieselbe Gruppe handelte, mußte eine fehlen. Ich konnte mich nicht an jede von ihnen erinnern, ich hätte nicht sagen können, wie sie im einzelnen ausgesehen hatten, auch an die fehlende Sechste erinnerte ich mich nicht, da ich sie alle nur als Teil der bunten Gruppe wahrgenommen hatte. Aber sie waren zu sechst gewesen. In meiner Vorstellung wurde das fehlende Mädchen sofort zu dem, das auf den vielen Gesucht-Anzeigen an den Laternenpfählen in der Anliegerstraße vor meinem Haus abgebildet war. Ihr Foto war mittlerweile beschmiert, das Papier aufgeweicht. Deutlich erkennbar waren nur noch zwei Zöpfe, blond und geflochten, und mir fiel auf, daß sie es war, die ich im Delirium in die Wüste geschickt hatte.
|195| Ich frage mich nicht mehr, ob ARS beim Schreiben ähnliche Delirien erlebt. Ob sich ständig Dinge, die wahr sind, und Dinge, die nicht wahr sind, ineinanderschieben und sie am Ende nicht mehr weiß, ob sie etwas erlebt oder erfunden hat.
Seit ich von diesem Spaziergang zurück bin, kommt mir die Sammlung in meinem Zimmer schäbig vor. Der Hefter mit Rezensionen. Die Kaugummis. Die Fotos an den Wänden. Es ist, als hätte ein Farbfilter über diesen Fotos gelegen, der sie unwirklich hatte leuchten lassen, und jetzt, wo der Filter verschwunden ist, zeigt sich alles in nacktem Schwarzweiß. Ich stehe davor und starre ARS an, und sie starrt leer zurück.
Als hätte der Farbfilter auch auf mir gelegen und mich geblendet, fällt mir erst jetzt auf, wie plump ARS auf vielen der Fotos wirkt, wie gestellt die Aufnahmen sind, wie steif ihre Haltung. Sie ist zu jung. Ich lege eines der Videos ein, und mir fällt auf, wie gekünstelt sie spricht. Als hätte sie sich das antrainiert. Häufig scheint sie nicht mal zu wissen, was sie eigentlich sagen will.
Es kommt mir so vor, als hätte ich die letzten vier Jahre unter Hypnose verbracht. Als hätte mich etwas in einen willenlosen, leicht beeinflußbaren Zustand versenkt. Aber noch ist es nicht zu spät. Noch ist der Vertrag mit den Nepuzenern ja nicht unterschrieben, und so bleibt mir wenigstens diese Peinlichkeit erspart.
Das weiße Spitzendeckchen unter den Turnschuhen, auf dem die Kaugummis liegen und der Eichendorff-Band, gehört in die Wäsche.
Es sind diese Turnschuhe, von denen schon die ganze Zeit ein feuchter,
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