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Vom Dorf - Abenteuergeschichten zum Fest

Titel: Vom Dorf - Abenteuergeschichten zum Fest Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antje Rávic Strubel
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Mittlerweile hatte man all die Hinterhöfe, |116| Keller und Geräteräume verglast, in denen sie früher gehaust hatten, und als sie jetzt dorthin zurückkehrten, waren sie unter dem Glas überall deutlich und immerzu sichtbar. Das aber hatten sie nicht gewollt, so in den Mittelpunkt unter Glas gelegt und ständig ausgestellt zu werden, und da wußten sie nicht mehr, wo noch leben, wo überhaupt jetzt hin, und hatten das Gefühl, älter als ihre eigenen Mütter zu sein. Und zogen durch die Straßen, von denen man sie jede Nacht vertrieb. Und wurden so langsam hohl und still und bewegten sich nicht. Aber sie wußten, eines Tages käme jemand und holte sie ab, eines Tages in der Vorweihnachtsnacht würde sie jemand zurückführen in die Stadt, auf daß sie wieder Besitz von ihr ergriffen   –«
    »Genau«, sagte ich im Versuch, uns jetzt gemeinsam glaubwürdig zu machen. »Und da sind wir. Und ihr kommt jetzt mit uns zurück. Und wenn sich uns jemand in den Weg stellt, dem, dem, dem mach ich den Garaus!« rief ich heldisch. »Dann hol ich die gun raus.«
    Meine Freundin vom Dorf lächelte mich an. »Janz meene kleene Pazifistin«, sagte sie.
    Ich umarmte sie. Ein bißchen zu überschwenglich.
    Der Lastwagen hielt. Ringsum war Feld. Die Ladeklappe öffnete sich, Schneeflocken brachen ein. Rechts und links kahle Bäume. Die orange Uniformierten leuchteten, wir wußten nicht, wo wir waren.
    Wir standen erstmal im Wind.

|117| Protokoll 6
    Von der Freundin, der ich die gefälschte Mail schickte, kam keine Reaktion. Was ist denn nur los? Warum kommt nie, aber auch nie etwas zurück?
    Wenigstens mit dem Schreiben scheint es besser zu gehen. Neun Kilobyte in einer Nacht. Das ist mehr als je zuvor.
    Es geht besser, wenn man mit der Erinnerung arbeitet. Mit dem, was tatsächlich geschehen ist oder mit dem, was geschehen sein könnte. Und mit dem, von dem man sich wünscht, daß es geschehen wäre, und auch mit dem verpaßten Glück.
    Man darf einfach nicht erwarten, über jede Einzelheit die Kontrolle zu haben. Man muß sich treiben lassen. ARS würde mit Sicherheit genauso denken. Ich bin ihr schon sehr nah.
    Persönlich bin ich ihr nach der Begegnung im Potsdamer Buchladen nur noch ein einziges Mal wirklich nahe gekommen. Das war so ein Moment verpaßten Glücks.
    Sie hatte wieder eine Lesung, diesmal in Rheinsberg, im frisch sanierten Schloß. Die Lesung fiel in eine Zeit, in der immer wieder Wut in mir hochkochte. Die Wut rührte daher, daß ARS, die so viel jünger war als ich, unsere Verbundenheit ignorierte oder glaubte, sie nicht nötig zu haben. Daß sie das, was in einem vielleicht unwiederbringlichen Moment entstanden war, nicht würdigte. Von heute aus gesehen, wirkt diese Wut lächerlich, wie die eines Lese-Anfängers, der nicht warten kann, bis er den Satz mühsam zu Ende buchstabiert hat.
    |118| In Rheinsberg gelang es mir, mich unter die kleine Gruppe zu mischen, die nach der Lesung in einem der neuen, mit falschem Eichenholz möblierten Lokale etwas essen ging. Freunde des Buchhändlers, eine Journalistin mit ihrem Mann, eine Studentin, die gerade an irgendeiner Hausarbeit schrieb, genug Leute jedenfalls, daß von mir angenommen werden konnte, mich habe jemand mitgebracht.
    Es war kalt. Ein eisiger Wind fegte vom See herauf. ARS trug einen dünnen Mantel, den sie offenließ, als wir über das Kopfsteinpflaster in das Weinlokal neben der Bootsanlegestelle liefen. Im Lokal konnte sie den Stoff kaum greifen, so steif waren ihre Hände. Da ich am nächsten stand, half ich ihr, den Mantel auszuziehen, und konnte so den Platz direkt ihr gegenüber ergattern. Sie trank ziemlich schnell ziemlich viel Rotwein.
    Nach dem Essen wandte sie sich mir zu. Sie schien sich nicht an unseren Abend in Potsdam zu erinnern, aber vielleicht täuschte sie das Vergessen nur vor, um herauszufinden, ob ich ihre Nachricht, die mir der schlampige Buchhändler vorenthalten hatte, gelesen und verstanden hatte.
    Wir redeten über Rheinsberg. Als ich ihr erzählte, daß ich ganz in der Nähe, in Linow, im Sommer oft ein Ferienlager geleitet hatte, wurde sie aufmerksam. Sie gab zu, selbst als Kind den Sommer oft in diesem Ferienlager in Linow verbracht zu haben. Mich wunderte das nicht. Ich bin sicher, daß unsere Verbindung nicht erst vor kurzem entstanden sein kann.
    Wir erinnerten uns an die schlammige Badestelle im Schilf. Wir erinnerten uns an Nachtwanderungen mit falschen Gespenstern, an die Discos im Speisesaal und den Pfefferminztee,

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