Vom Dorf - Abenteuergeschichten zum Fest
Trinken, wo ja auch geredet werden muß, vor allem, was da geredet wird, das denk ich am Schreibtisch viel schneller durch, dazu muß ich nicht erst umständlich was trinken gehen«, sagte ich und hätte angesichts der Atemlosigkeit meines Bruders gern aufgehört, kam aber irgendwie nicht mehr heraus, es war wie in den alten Geschichten, als Abraham noch den |125| Isaak zeugte und Isaak den Jakob und Jakob wiederum den Juda, der dann mit Thamar den Perez und den Seraeh zeugte, aus denen Hezron und Aram entstanden, denen schließlich Amminadab und Nahason folgten, ein Rüpel, und so ging es immer weiter, eine einzige alttestamentarische Erschütterung, bis Jakob den Joseph zeugte, der der Mann der Maria war, aus der wiederum Jesus kam, auch wenn niemand wußte, wie, »hör mir mal zu«, rief mein Bruder ins Telefon, »wir haben keine Zeit für Witze«, und so nervös, wie er klang, sah ich das auch vollkommen ein, sagte aber trotzdem: »und gehe ich nicht sowieso schon dauernd was trinken, warum rufen sie deswegen denn auch noch an, als könne man sich nur anrufen, um was trinken zu gehen, als höbe das die Qualität des Telefonierens irgendwie an, und wenn man sich dann doch von den Menschen, die Zeit haben, dauernd was trinken zu gehen, überreden läßt, mitzugehen, haben sie schon am Telefon alles gesagt, also kann man es sich doch sparen, was trinken zu gehen, aber dann sagen sie, aufs Reden kommt es doch auch nicht, es käme doch nur aufs Trinken an. So«, sagte ich, »und jetzt muß ich hier meinen Schreibauftrag erfüllen.«
»Das ist jetzt nicht wichtig!«
»Ach, aber das letzte Mal, als du angerufen hast –«
»Das letztemal war deiner Freundin auch noch nichts passiert.«
»Aber der passiert immer etwas.«
»Hör mal«, sagte mein Bruder, »sie sitzt gekidnappt auf dem Fernsehturm.«
»Ja«, sagte ich. »So könnte die Geschichte beginnen.«
»Kann es sein, daß du grad was nicht kapierst? Sie ist gekidnappt, entführt, hörst du! Sie hat mir aufs Handy gesprochen und klang furchtbar gehetzt. Du hast ja kein |126| Handy, was übrigens ziemlich hinterwäldlerisch ist, das wollte ich dir schon immer mal sagen, deshalb hat sie auf meines gesprochen, sie hat geflüstert und gesagt, sie würden überhaupt keine Anrufe erlauben.«
»Wer?«
»Keine Ahnung! Sie hatte Angst. Ansonsten war sie schwierig zu verstehen, die berlinert ja wie ein Maurer!«
»Und was macht sie auf dem Fernsehturm?«
»Woher soll ich das wissen?«
»War sie besoffen?«
»Sag mal, ist das meine Freundin oder deine. Wenn sie dich nur besoffen anruft, war sie vielleicht besoffen. Danach war jedenfalls die Leitung tot.«
»Und was soll ich jetzt machen?«
»Hingehen und sie rausschießen wahrscheinlich«, sagte mein Bruder und legte auf. Ein Zweig rieselte von meinem Aldi-Adventsgesteck und schlug leise zu Boden. Ich war erschüttert. Während ich unversehrt hier saß, in der Sicherheit meines Schreibtischs, im benebelnden Räucherkerzendunst, der Tränen hochdrückte, mit denen ich selbstmitleidig mein Unglück begoß, noch immer eingebildet genug, jede Einladung zum Adventsumtrunk abzulehnen, war meine Freundin in Lebensgefahr –
Während der Satz noch weiterging, zog ich mein Regencape an. Ich rutschte in die Stiefel und nahm die Öffentlichen zum Fernsehturm. Ich hatte ein Notfallpäckchen dabei: Pflaster, Mull und Müsliriegel und Kaugummis gegen die Nervosität. Wieder steckte ich das Kampfgas ein, dessen Verfallsdatum mittlerweile abgelaufen war. Unter den Autoreifen schäumte der Regen. Der Platz vor dem Fernsehturm war menschenleer, in den Lichtkegeln der Straßenlaternen fiel leise der Niesel. Ein paar verirrte Touristen unter Regenschirmen zogen mit gesenkten Köpfen vorbei.
|127| Alles war friedlich. Mein Bruder hatte mich reingelegt. Diese Befürchtung zerbrach unter einem gewaltsamen Griff. Ein riesiger Kerl, dem das Wasser von der Kapuze tropfte, packte mich und raunte mir zu:
»Setzen Sie sich bei diesem Wetter lieber ein Kopftuch auf.«
»Lassen Sie mich los. Ein Menschenleben ist in Gefahr. Ich habe es eilig.«
»Aber junge Frau! Sie sehen aus, als könnten wir Sie gebrauchen.«
»Ich glaube nicht«, sagte ich laut. »Ich glaube nicht, daß mich irgend jemand noch braucht, mich braucht nämlich niemand mehr.« Trotzdem keimte in mir ein grünes Pflänzchen, vom Eise befreit, also wohl Hoffnung. Ich sah auf und in ein gebräuntes Gesicht, noch nie hatte ich so eine Bräune mitten im Dezember gesehen,
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