Vom Ego zum Selbst: Grundlinien eines spirituellen Menschenbildes
um tiefere Selbsterkenntnis zu erlangen. In der Geschichte der Psychotherapie hat uns vor allem Wilhelm Reich (vgl. 1978) darauf aufmerksam gemacht, dass sich Widerstände gegen bedrohliche psychische Inhalte über die Verflachung des Atems aufbauen. Umgekehrt kann schnelleres Atmen Blockaden beseitigen, das Erleben erweitern und intensivere Gefühle evozieren. Das EEG zeigt in der Hyperventilation vorwiegend Theta- und Deltawellen, die nach dem Hirnforscher Johannes Holler (vgl. 1991) auf die Aktivierung von Selbstheilungskräften und visionären Fähigkeiten hinweisen. Das Holotrope Atmen erhöht einerseits die Erregbarkeit der Nervenzellen im Gehirn und lockert andererseits hemmende Faktoren, die normalerweise für die adäquate Informationsverarbeitung zuständig sind. Im durchschnittlichen Wachbewusstseinszustand werden eingehende äußere wie innere Informationen fortlaufend mit Gedächtnisspuren verglichen und durch vergangene Erfahrungen interpretiert. Nicht dazu passendes Material wird ausgefiltert, um die Komplexität zu reduzieren. Man muss sich nur vorstellen, dass in einer Sekunde ca. elf Millionen Sinneseindrücke auf uns einwirken, wovon etwa vierzig bewusst verarbeitet werden können. Im Holotropen Atmen wird jedoch der Filter durchlässiger, so dass wir mehr Informationen über uns gewinnen können.
Der Prozess wird durch evokative Musik noch weiter intensiviert. Im ersten Teil der Atemsitzung werden eher schnellere Rhythmen, wie Trommelmusik, gespielt, um die Dynamik des Atmens zu unterstützen. Daran anschließend sollen dramatische Stücke klassischer oder ethnischer Prägung sowie Filmmusik Durchbrüche erleichtern. Im letzten Drittel hilft integrierende, langsame oder spirituelle Musik beim allmählichen Zurückkommen. Musik fördert Bewegung, Dynamik, Kreativität und Ruhe. Sie öffnet die individuellen und kollektiven Archive des Menschen, macht Spannungen deutlicher, löst inneres Chaos in dynamischer Weise auf und lässt verborgene Harmonien hervortreten. Die Musik suggeriert nicht Inhalte, sondern vertieft und verstärkt den Erfahrungsverlauf, indem bedeutsame Szenen, Bilder und Zustände prägnanter werden.
In der Gruppe baut sich ein dynamisches Atemfeld auf, ein gemeinsamer Erfahrungsraum, aus dem heraus individuell ganz unterschiedliche Eindrücke verarbeitet werden. Der eine atmet laut, schreit oder führt starke Bewegungen aus, ein anderer geht tief nach innen und wirkt ganz »weit weg«. Auch wenn, von außen betrachtet, die Szenerie äußerst fremdartig oder dramatisch anmutet, werden nur Erfahrungen zuteil, die ohnehin latent vorhanden sind. Das Schlimmste, was also passieren kann, ist, dass man einem Thema oder einem Zustand begegnet, der in uns bereits unbewusst wirkt. Für psychospirituelle Wachstumsprozesse ist es vorteilhaft, wenn diese Energien bewusst verfügbar werden, denn nicht das, was wir erleben, macht in der Regel Probleme, sondern eher das, was wir nicht erleben. Deshalb kann man getrost loslassen, sich vertrauensvoll einlassen und zuversichtlich zulassen, was gegenwärtig wird.
Im holotropen Bewusstseinszustand verlagert sich natürlicherweise die Regie von der kognitiven Vorherrschaft auf die tieferliegende Kraft der inneren Weisheit. Die Person, das Ich, nimmt mehr die Position des Zeugen der Erfahrung ein und überlässt das aktive Handeln dem inneren Geschehen. Die Zensur und Kontrolle sind stark gelockert (»innere Zensurschwäche«), so dass flüssig, assoziativ und spontan fluktuierendes Material aus tieferen Schichten der Seele ins Bewusstsein strömt. Es ist eine Trance, vergleichbar mit kraftvollen Traumsequenzen, in der sich kaleidoskopartig Assoziationen verdichten, Bilder ablaufen und zugehörige Körperresonanzen einstellen. Tiefsitzende Spannungen und konfliktbehaftete Anteile der Psyche werden durch das Holotrope Atmen so heftig aufgeladen, dass sie von der Peripherie des Unbewussten in das Bewusstsein drängen. Dabei kann es auch zu äußerst authentischen Regressionen bis zum Beginn des Lebens kommen. Früher dachte man, dass die Erinnerungsspuren von Erwachsenen maximal bis ins dritte, unter Umständen auch ins zweite Lebensjahr zurückreichen. Heute geht man sogar von vorgeburtlichen Erinnerungsspuren aus, auf die wir normalerweise keinen Zugriff haben. Zudem scheint man über diese impliziten Gedächtnisstrukturen auch Zugriff auf morphogenetische Felder (vgl. Sheldrake, 1990 u. 1991) zu haben, die mit dem kollektiven Unbewussten und dem
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