Vom Ego zum Selbst: Grundlinien eines spirituellen Menschenbildes
herbeizuführen.
Dieser Schritt der Innenschau kann vor allem von Menschen, die schwerwiegende traumatische Erfahrungen wie Missbrauch, frühe Trennung von der Mutter, Gewalt oder Verwahrlosung erlebt haben, nicht alleine durchgeführt werden. Es braucht einen Psychotherapeuten, der behutsam auf die Erfahrungen eingeht und die kritischen früheren Ereignisse herausfiltert. Er gibt hilfreichen Beistand, ist solidarisch, achtsam und verlässlich. Das sind Eigenschaften, die der Klient früher vermisst hat. Die therapeutische Beziehung wird zu einem sicheren Ort, der es leichter macht, verdrängten Inhalten nachzuspüren. Die unbewussten Motive, die problematische Lebenssituationen inszenieren, zeigen sich häufig in nonverbalem Verhalten oder in Träumen.
Die inneren Spielräume werden im Laufe der Zeit größer, wenn die krankmachenden Impulse herausgearbeitet und integriert werden. Dann kann auch die Lebensgeschichte vollständig und so, wie sie war, angenommen werden. Wenn ich sie darüber hinaus als Lebensschule deuten kann, können brachliegende Potenziale frei werden und sich frühere Belastungen in Fähigkeiten verwandeln. So zum Beispiel, dass jemand schon früh lernen musste, Verantwortung zu übernehmen, oder eigene Ressourcen aktivieren musste, um unter widrigen Umständen überhaupt überleben zu können. Ein Klient wurde kurz nach der Geburt von seiner Mutter ausgesetzt und kam dann als Findelkind in ein Heim. Als er den Schmerz und die Ohnmacht spüren konnte, hatte er plötzlich Zugang zu der Fähigkeit, in ausweglosen Situationen ungeahnte Kräfte zu entwickeln. Etwa nach einer Krebsdiagnose. Mit Ausdauer und Mut stellte er sich dieser Auseinandersetzung und fand dadurch zu einer unerwarteten Genesung. Wenn sich der Mensch verstehen, annehmen und ausdrücken lernt, entwickeln sich die Reifungsprozesse dynamischer und tiefer. Durch die Auflösung von inneren Blockaden, die die strikte Trennung zwischen bewusstem und unbewusstem Material aufrechterhalten mussten, fühle ich mich gestärkt und nicht mehr durch aufbrausende Gefühle oder Gedankenfixierungen zu etwas gedrängt. Automatisches unbewusstes Agieren und unangenehme Verstrickungen werden weniger. Durch diesen inneren Freiraum können hinderliche Verhaltensmuster schneller erkannt und aufgelöst werden. Das Vertrauen zu sich selbst und in die Welt wird gefestigt, so dass ich allmählich fähig werde, Spannungen, Gefühle und Gedanken organischer loszulassen. Diese Bereitschaft ist besonders für die nächste Ebene von großer Bedeutung. Weitergehende Beruhigung des Geistes kann erst dann gelingen, wenn die vergegenwärtigten Phänomene nicht mehr aufgegriffen werden müssen. Das birgt große Unsicherheiten in sich, weil in dem Maße, wie wir Gedanken und Gefühle nur noch registrieren, ohne ihnen zu folgen, die gewohnten Sichtweisen oder Perspektiven aufhören, Haltegriffe zu sein. Die Ordnung des inneren Koordinatensystems gerät ins Wanken.
Tiefenschau
Die nächste Ebene der Innenschau verspricht interessante Prozesse, denn wir wollen hinter unsere Prägungen und Identifizierungen blicken, um dem Wesen und dem Sein noch näherzukommen. Dafür müssen wir etwas opfern, nämlich das, was wir wissen und bisher erfahren haben, über uns und die Welt. Dieses radikale Loslassen ist wie ein Sterben. Kein Stein bleibt mehr auf dem anderen, nichts ist mehr fest und stabil, alles kommt und geht.
In der Geschichte der Philosophie wurde Ende des 19. Jahrhunderts eine philosophische Richtung von Edmund Husserl begründet, die diesem Ansinnen sehr nahekommt. Sie wird als Philosophie des beständigen Anfangs bezeichnet, weil sie bis zum Ursprung des Seins vorstoßen will: die Phänomenologie. Sie ist angetreten, über intuitives geistiges Schauen zu den »Sachen selbst« zu kommen und das Wesen der Dinge zu erfassen. Dabei möchte sie uns in der Frage, wie wir zu einer radikal vorurteilslosen Erkenntnis kommen können, behilflich sein. Sie rät uns, sich all dessen zu enthalten, was wir von einer Sache wissen. Das Auge muss farblos werden, um die Farbe erkennen zu können. Es gilt also, Meinungen, Vorurteile oder Anschauungen auszuschalten. Wir halten inne und unterbrechen die natürlichen Gedankenbewegungen und Einstellungen. Dies besagt nicht, dass das gesammelte Wissen wertlos sei, sondern nur, dass wir uns für eine gewisse Zeit davon lösen, um zu einer radikalen Offenheit zurückzukehren. Wenn wir das Vorgefundene einfach hinnehmen, wie es ist, auch
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