Vom Ego zum Selbst: Grundlinien eines spirituellen Menschenbildes
bewegen.
Es ist also zunächst notwendig aufzuzeigen, worin sich die Begriffe Ich und Ego unterscheiden, ergänzen oder überschneiden. Dann ist auch noch herauszuarbeiten, inwiefern egoistische Menschen psychisch krank sind, so dass eine Psychotherapie angezeigt ist und spirituelle Übungen alleine nicht genügen, um diese Problematik hinreichend zu bewältigen. In der Psychologie spricht man dann von pathologischem Narzissmus. Es ist weitgehend bekannt, dass es sich dabei um eine schwere Krankheit handelt, die einer intensiven Psychotherapie bedarf. Störungen grundlegender innerer Strukturen haben immer auch mit seelischen Verletzungen zu tun. Je früher diese in der Lebensgeschichte stattfinden, desto gravierendere Spuren hinterlassen sie. Davon ist nicht nur der Aufbau notwendiger Ich-Funktionen betroffen, sondern in den meisten Fällen ist auch der Kern dieser Menschen, das Selbst, in Mitleidenschaft gezogen. Auch wenn sich über ein brüchiges Selbst durchaus ein funktionierendes Ich entwickeln kann, so ist doch grundsätzlich davon auszugehen, dass eine beschädigte Mitte den Aufbau von funktionalen Verarbeitungsmechanismen nur schwer gelingen lässt. Da hier aber nicht die Feindifferenzierung psychodynamischer Prozesse im Mittelpunkt steht, werden grundlegende entwicklungsrelevante Milieufaktoren, die eine gelingende Ich- und Selbstentwicklung unterstützen, im Zusammenhang dargestellt werden.
Darüber hinaus ist darauf hinzuweisen, dass es auch bei der Skizzierung von Ich- und Selbst-Konzepten teilweise zu Überlappungen kommen wird. Wenn nämlich ichstrukturelle Defizite vorliegen, ist nicht nur das Selbst beschädigt, sondern häufig sogar der Aufbau eines gesunden Ich blockiert.
Die psychischen Strukturen, aus denen heraus unser Erleben und Handeln Kontinuität und Richtung gewinnt, werden im Zusammenspiel von Reifung und Beziehungserfahrungen von frühester Kindheit an allmählich entwickelt. Das ganzheitliche Selbsterleben, das sich von äußeren Objekten unterscheiden kann, bildet das Gefühl heraus, eine Identität zu haben. Sie befähigt den Menschen zu kommunizieren, autonom zu handeln, sich abzugrenzen, sich zu binden und wieder zu lösen. Ich-Strukturen sind, ganz allgemein gesprochen, zuständig für Prozesse des Differenzierens, Regulierens und Integrierens. Während also das Selbst das bewusste und unbewusste Gesamterleben einer Person in der Welt charakterisiert, fungiert das Ich mit seinen Funktionen als Manager, der die Abläufe organisiert. Da das hier kurz skizzierte Selbst-Konzept noch unvollständig ist, wird später gesondert darauf einzugehen sein.
Auf dem Hintergrund meiner eigenen beruflichen Perspektive ist es mir immer wichtiger geworden, die feinen Linien der seelischen und geistigen Prozesse nachzuzeichnen, zu verbinden und in einem Gesamtkontext der psychospirituellen Entwicklung zu sehen. Auch wenn Psychotherapie, deren Ausgangspunkt psychische Leiden sind, und Spiritualität unterschiedliche Zugänge haben, so werden doch ähnliche Ziele angesteuert: Befreiung von Leid, Lösung innerer Blockaden und Selbstverwirklichung. Beide Richtungen streben ein sinnvolleres und wesentlicheres Leben an. Aber auch Glück, Zufriedenheit und innere Sicherheit sollen erfahrbar werden.
Ein weiterer wichtiger Punkt ist noch zu erwähnen. Wenn wir uns mit Begriffen wie Ich, Selbst und Ego beschäftigen, muss es uns stets bewusst bleiben, dass es sich hier um pragmatische Begriffe und hypothetische Konstrukte handelt. Ein hypothetisches Konstrukt verweist auf psychische Strukturen, die wir erschließen, aber nicht direkt beobachten können. Es handelt sich also nicht um körperlich nachweisbare Substanzen, sondern um seelische Koordinaten, die dem Individuum das Gefühl von Konstanz und Identität verleihen. Dies wird auch von der Hirnforschung so gesehen, die vergeblich nach einem Ich oder Selbst, einer zentralen Steuerungsinstanz im Gehirn, gesucht hat. Nach deren Meinung sind es hervorgehobene Verschaltungen in der Großhirnrinde, die diesen Funktionskreisen zugrunde liegen.
Letztendlich ist es eine Illusion, daran zu glauben, dass das Ich oder Selbst eine überdauernde Instanz darstellt. Es sind vorübergehende psychische Konfigurationen, die der Ausbalancierung, Differenzierung und Regulierung seelischer Prozesse dienen. Darin sind sich wissenschaftliche und spirituelle Disziplinen einig. Dennoch hat es sich in der Psychologie, Psychotherapie und Spiritualität bewährt, mit diesen
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