Vom Ego zum Selbst: Grundlinien eines spirituellen Menschenbildes
Ihnen passiert. Es ist ein Prozess im Gange, der nicht mehr aufzuhalten ist; auch die Ärzte können nicht mehr behilflich sein. Körper, Gefühle und Gedanken lösen sich mehr und mehr auf. Und in Ihrem Inneren kommt plötzlich Dunkelheit auf, die sich immer mehr ausbreitet. Und Sie stellen sich vor, wie ein liebgewordener Mensch, ein Guru, ein Meister oder Lehrer, auf Sie zukommt, Sie an die Hand nimmt und in den Übergang begleitet.
12. Plötzlich sehen Sie auch Licht – warm und klar. Nehmen Sie es in sich auf, lassen Sie sich davon tragen und führen. Die Lichtstrahlen gehen durch Sie hindurch, reinigen und öffnen Sie – mild und sanft. Und vielleicht gehen Sie auch ganz darin auf – einfach geschehen lassen, was geschieht; es passiert einfach, was passiert.
13. Wenn Sie gleich die Reise zurück antreten, haben Sie die Möglichkeit, etwas von dieser Erfahrung in Ihr Leben mitzunehmen. Ganz allmählich und in kleinen Schritten kommen Sie nun wieder in die Jetzt-Zeit zurück – mehr und mehr auch dorthin, wo Sie gerade sitzen oder liegen. Sie spüren auch wieder die Gliedmaßen, die inneren Organe und den Atem. Sie können sich strecken, dehnen und die Augen öffnen.
14. Wenn Sie möchten, können Sie auch wieder Notizen von Ihren Erfahrungen machen.
Das Sterben des Ego
W enn wir im Leben sterben üben, ist das eine große Herausforderung für das Ego, denn es muss seine Dominanz zugunsten des größeren Ganzen zurücknehmen. In den verschiedenen spirituellen Traditionen wird das Ego als ein Hindernis auf dem Weg zur Selbstverwirklichung, als ein Widerstand gegen das Göttliche angesehen. Die Transformation des Ego, die Auflösung festgefahrener Persönlichkeitsstrukturen, die bis zum Ego-Tod führen kann, ist absolut notwendig, um unsere wahre Natur entdecken zu können. Da nun gewisse Unsicherheiten darüber bestehen, wie denn das Ego zu verstehen ist und ob es mit dem Ich gleichgesetzt werden kann, werde ich zunächst auf das Ich eingehen, dann das Ego in seinen Facetten beschreiben, um darauf aufbauend darzulegen, dass es in der inneren Entwicklung einerseits um die Transformation des Ego und andererseits um die Transzendenz des Ich geht. Beide Perspektiven ergänzen sich und sind für die spirituelle Praxis von hoher Bedeutung.
Bevor ich mich gründlicher mit dem Ego auseinandersetze, sollen zunächst einige Unklarheiten, die immer wieder zu Missverständnissen führen, ausgeräumt werden.
In der spirituellen Literatur werden häufig die Begriffe Ich und Ego synonym verwendet. Die Ichlosigkeit wird als wichtiges Ziel der spirituellen Befreiung angesehen. Das Ich ist für die mystischen Wege somit das zentrale Hindernis auf dem Weg zu Gott.
Als sich in den letzten achtzig Jahren die Tiefenpsychologie, und später die Psychotherapie, als moderne Ansätze der Selbsterforschung etablierten, wurde auf die Stärkung des Ich besonderer Wert gelegt. Solange nun Spiritualität und Psychologie getrennte Wege gingen, gab es keine Probleme, denn jede Richtung hatte ihre eigenen Ich-Konzepte.
Die Schwierigkeiten traten erst auf, als über das Entstehen der transpersonalen Psychologie in den frühen siebziger Jahren der Dialog zwischen Psychotherapie und Spiritualität begann. Erschwerend kam hinzu, dass Freuds Instanz des Ich in den angelsächsischen Ländern einfach als Ego übersetzt wurde.
Im Kern gab es folgende Argumentation: Was die Psychotherapie mühsam aufgebaut hat, nämlich ein gesundes Ich, soll nun durch spirituelle Übungen losgelassen werden. Kann denn ein gesundes Ich wirklich ein Hindernis auf dem spirituellen Wege sein? In hitzigen Diskussionen wurden die unterschiedlichen Standpunkte dargelegt, ohne vorab zu klären, wie der jeweilige Gesprächspartner diese Begriffe eigentlich versteht. Macht man das nämlich, kann sehr schnell klarwerden, dass sich die Bedeutung des Ich in der Psychologie und Psychotherapie von dem Verständnis des Ego in der Tradition spiritueller Richtungen wesentlich unterscheidet. Ein Erleuchteter, der sein Ich transzendiert hat und frei vom Ego handelt, ist kein ichschwacher Mensch, der seine Standfestigkeit, seine Mitte oder seine strukturellen Fähigkeiten eingebüßt hat. Ganz im Gegenteil, spirituelle Meister stehen mit beiden Füßen auf der Erde und zeigen in ihren Wahrnehmungen und spontanen Handlungen ein großes Ausmaß an Spürsinn und Effektivität. Sie sind keine Duckmäuser, sondern Menschen, die eine Ausstrahlung haben und etwas
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