Vom Ego zum Selbst: Grundlinien eines spirituellen Menschenbildes
Bestimmung des All-Einen folgt und Gutes bewirkt.
Durch das tiefe Vertrauen in die Lebensprozesse muss es nicht länger kontrollierend eingreifen, sondern kann zwanglos lebendig werden lassen, was sich verkörpern möchte, und, im Dienste der inneren Weisheit, angstfrei Resonanzen und Impulse aufgreifen und wieder loslassen. Die Zuneigung zum All-Einen befreit das Handeln von speziellen persönlichen Erwartungen und Wünschen. Wenn der Mensch zu seinem Wesen, zu seiner wahren Natur, findet, leuchtet durch das Individuum das All-Eine hindurch.
Auch wenn diese Vision faszinierend ist, ist dieses Ziel in weiter Ferne. Man ist aufgefordert, bescheiden und ausdauernd auf dem Weg zu bleiben, denn die Vorstellung, egolos zu sein, könnte nämlich der letzte Schlupfwinkel des Ego sein. Das Ego kann sich hinter vielen Masken verstecken. Wenn wir die Gnade erleben dürfen, weitgehend frei von Ego zu zu sein, wird vieles einfacher.
Ego-Tod
Wer geduldig vorwärtsgeht, Hindernisse überwindet und sich dem Willen des All-Einen hingibt, bereitet den Boden für die Gnade des Absoluten, die mit einer vorher nicht gekannten Wucht die letzten Schichten des Ego aufbrechen kann. In der einschlägigen Literatur gibt es dafür die Bezeichnung Ego-Tod. Auch wenn der Name ein dramatisches Geschehen andeutet, wird man reichlich beschenkt.
Auf jedem spirituellen Weg kann es Krisen geben, die sich zunächst wie Rückschritte anfühlen. Diese sollten wir mit einkalkulieren und deshalb dann nicht aufhören, unsere Übungen fortzusetzen. Wenn der Engpass strapaziöser wird, stehen wir meistens vor einer Schwelle, einem Durchbruch oder einer neuen Seinsebene. Gerade dann ist die spirituelle Praxis von größtem Nutzen, weil sie uns Halt gibt und sich die innere Führung besser gegen unsere Widerstände durchsetzen kann.
Je mehr wir uns auf dem spirituellen Weg voranbegeben, desto größer werden zunächst auch die Herausforderungen. Das bisher gelebte Leben wird in seinen Begrenzungen zunehmend leidvoll und konflikthaft erfahren und von der Angst begleitet, innere Sicherheiten zu verlieren. Einerseits kann ich nicht mehr so existieren wie früher, andererseits bin ich noch nicht wirklich in meinem neuen Leben angekommen. Es ist ein Zwischenstadium, in dem es kein Zurück gibt, aber auch der Schritt nach vorne noch nicht gelingt. Das Ego stemmt sich mit seiner ganzen Kraft gegen diesen Prozess. Dieser Engpass kann zu stürmischen Umbrüchen, radikalen Zweifeln und heftigen Krisen führen. Es entsteht der Eindruck von Regression statt von Fortschritt im besonders schmerzlichen Kontrast zu früheren gnadenhaften Erfahrungen.
Teresa von Avila (vgl. 1979), eine spanische Mystikerin des 16. Jahrhunderts, hat dieses mit dem Ego-Tod einhergehende Stadium der »Seelennacht« besonders eindrucksvoll geschildert. Allegorisch beschreibt sie den spirituellen Weg in der Inneren Burg als eine Wanderung durch verschiedene Wohnungen. In der dritten Wohnung leidet der Mensch unter Trockenheit und findet kaum noch in die Nähe Gottes. Mündliches Gebet und Betrachtung funktionieren nicht mehr so recht, die eigenen Fehler werden dafür umso schärfer gesehen. Gott entzieht dem Menschen die schon geschenkten Gnaden, um ihm seine Abhängigkeit zu zeigen. Denn wie der Mensch nun einmal ist, könnte er sich schnell überheben und sein kleines Ego aufblähen, wenn er sich oft in der Nähe fühlte, ohne jedoch wirklich mit ihm vereinigt zu sein. Hier setzt nun die Erziehungsarbeit Gottes ein. Der Mensch wird durch diese Wohnung nur hindurchkommen, wenn er die entbehrten Erfahrungen in Gelassenheit und Liebe trägt.
Natürlich fällt es schwer, innezuhalten und in die Stille zu gehen, wenn sich die Turbulenzen zuspitzen. Hier scheint alles in Frage gestellt, und die bisherige spirituelle Praxis steht auf dem Prüfstand. Dieses Durchgangsstadium kann folgenschwer in den Alltag eingreifen. Nicht selten werden vertraute Beziehungen aufgelöst oder materielle Güter verloren. Ähnlich den Vorgängen in Todesnähe wird man radikal aufgefordert, loszulassen und zu vertrauen.
Ein spiritueller Adept beabsichtigte, sein Erbe in einen Bauplatz zu investieren. Einige Tage vor dem Notariatstermin hatte er einen schweren Unfall. Noch im Rettungswagen entschied er sich, das Grundstück nicht mehr zu kaufen. Als er wieder gesund war, wurde ihm klar, dass er vor der wichtigen Aufgabe zurückgewichen war, ein spirituelles Zentrum zu gründen. Nun riskierte er diesen Schritt,
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