Vom Ego zum Selbst: Grundlinien eines spirituellen Menschenbildes
investierte seine Energie und sein Geld und nahm diese Herausforderung an.
Solche Prozesse können sich auf allen Ebenen zeigen. Eine Frau unterbrach die spirituellen Übungen, weil ihre Erfahrungen nicht so waren, wie sie es wünschte. Einige Tage später verlor sie Ausweis, Geldbörse und Kreditkarten. Zu Hause angekommen, hatte sie die Vision, nackt die offene Straße zu überqueren und von den Menschen ausgelacht zu werden. Auch fühlte sie sich nicht mehr im Kontakt zu sich selbst und völlig abgeschnitten von ihren Ressourcen und Fähigkeiten, so dass sie sich nicht mehr aus dem Hause traute. Verzweifelt begann sie, zu beten und Mantren zu singen. Plötzlich sah sie ein Licht, und es kehrte ein unbeschreiblicher Frieden ein. Am nächsten Morgen rief die Polizei an und teilte ihr mit, dass die Papiere wiederaufgetaucht seien. Mit Hingabe und Demut nahm sie wieder ihre spirituellen Übungen auf.
Auch das Auftreten von spontanen außergewöhnlichen Bewusstseinszuständen, abrupten Bewegungen, autonomen Körperreaktionen oder Hitzeempfindungen ist in diesen Prozessen nicht ungewöhnlich. Vielfach beschrieben, insbesondere in schamanischen Initiationsreisen, sind Visionen von Vernichtungserfahrungen am eigenen Leibe, wie etwa Zerstückeltwerden oder Verbranntwerden. Diese Erlebnisse erweisen sich im Nachhinein häufig als szenische Vergegenwärtigungen der stattfindenden Ego-Transformation bis hin zum Ego-Tod, ähnlich dem christlichen Mysterium des Kreuzestodes, wo das Sterben als Durchgang zum neuen Leben erfahren wird.
Das ist eine dramatische Phase, die auch aus der Praxis des Holotropen Atmens geläufig ist. Eine Seminarteilnehmerin musste folgendes Erlebnis durchstehen und berichtet:
»Mein Brustkorb steht in Flammen. Ich verbrenne innerlich. Mit der Zeit brennt das Feuer zu einem kleinen Punkt zusammen, der genau in meinem Herzen sitzt … diese Erfahrung geht weiter, und zwischendurch erlebe ich überströmende Liebe.«
Das kann sich zwar für den Suchenden in diesem Augenblick äußerst befremdlich anfühlen, bedeutet aber, dass alte, überkommene Persönlichkeitsstrukturen aufgelöst werden und stattdessen eine neue stabilere innere Basis entsteht. Die Angst vor dem Tod, die Angst vor dem Nichtsein sitzt tief in uns. Gewöhnlich verdrängen wir diese Angst oder funktionalisieren sie sogar für unsere Lebenszwecke. In der mystischen Literatur vieler Kulturen finden wir solche Erfahrungsberichte. Das, was wirklich sterben muss, ist die Identifikation mit dem Ego und seiner Isolation. Der Todesschrecken wird damit zum Übergang in eine völlig neue Sphäre inneren Friedens.
Gurumayi (1990, S.44 f.) schildert in ihren Erinnerungen diese Zustandsänderung sehr eindrucksvoll:
»Das Haus meines Ich ging in Flammen auf. Alles, was ich besaß, wurde verbrannt. Ich wollte mein Haus retten. Aber ich konnte nicht entkommen. Auch die Tür meines Hauses stand in Flammen. Ich weiß nicht mehr, was dann geschah … Und alles verstummte in der endlosen Stille der Liebe.«
In diesem Moment der Erleuchtung gehen Erkenntnis und Liebe, Leere und Fülle ineinander über. Der Zusammenbruch der Ego-Struktur wird als Vernichtung erfahren, die jedoch eine neue, höchst intensive Form der Seinswahrnehmung freisetzt. Toshihiko Izutsu (1984, S.32), ein Philosoph und Kenner des Zen-Buddhismus, beschreibt sie als eine von begrenzenden Wahrnehmungsrastern befreite Realitätserfahrung:
So sind »alle Dinge, da sie wesenlos sind, vollständig frei. Sie sind füreinander offen, unendlich durchscheinend … Und da es in dieser Dimension des Seins nichts gibt, das als das und das Ding subsistiert, … also für sich alleine existiert …, findet das Bewusstsein nichts, woran es sich festhalten könnte. Wenn das Bewusstsein nichts findet, woran es sich halten könnte, hört es auf, ›Bewusstsein von‹ zu sein«.
Erst dieses reine Bewusstsein ist frei für jenen Zustand umfassender Allverbundenheit, in der sich der Wahrnehmende als Sein in allem Seienden und damit als Wahrnehmender identisch mit dem Wahrgenommenen erfährt.
Wie wir vielleicht gerade selbst bemerken, ist es nahezu unmöglich, diese Erfahrungsdimension mit den Mitteln des menschlichen Verstandes auszuloten. Entsprechend vorsichtig müssen wir auch sein, wenn wir uns in diesem Bereich bewegen, sei es in der spirituellen, sei es in der psychotherapeutischen Praxis. Die bei Ego-Tod-Prozessen auftretenden dramatischen Durchgangsstadien ähneln nämlich in ihrer
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