Vom Ego zum Selbst: Grundlinien eines spirituellen Menschenbildes
gelegentlich. So erlebt es, dass es auch Hindernisse und Konflikte gibt. Bestimmte Ziele beim Spielen können nur erreicht werden, wenn man Fertigkeiten einübt und ausdauernd dabeibleibt. Die beginnende Selbständigkeit des Kindes, das sich auch über einen längeren Zeitraum mit sich selbst beschäftigen kann, darf aber nicht über die feinnervige Sensibilität dieses kleinen Wesens hinwegtäuschen, das manchmal durch das schnelle Größenwachstum robust wirkt. Zu große Anforderungen oder zu wenig Halt können zu schwerwiegenden Belastungen führen. Eine empathische Haltung dem Kleinkind gegenüber ist unverzichtbar, da sich das Selbst im Spiegel der Bezugspersonen entwickelt. Sie werden genauestens wahrgenommen, imitiert und in sich aufgenommen.
Das gilt nicht nur für explizites Verhalten, sondern auch für unbewusste Fantasien und Projektionen. Das Kind identifiziert sich damit, wenn der Vater es als bösartige Hexe oder die Mutter in ihm eine talentierte Eisprinzessin sieht. Nicht selten werden Kinder für die unerfüllten Wünsche der Eltern funktionalisiert. So können sich stillschweigend falsche Selbst-Aspekte einschleichen, die im Laufe des Lebens die wirklichen Anliegen und Bedürfnisse verdecken. Gilt diese Art von Vereinnahmung für viele Bereiche, dann kann man auch von einem kompensatorischen Selbst sprechen.
Andererseits bewirkt rücksichtsvolle Aufmerksamkeit, die gerade in leidvollen Augenblicken die wirklichen Bedürfnisse erkennt, den Aufbau von neuen Fähigkeiten. Wenn das Kind sich beim Spielen verletzt und von der Mutter getröstet und beruhigt wird, lernt es, wie durch die elterliche Fürsorge Angst und Schmerz besänftigt werden können. Darüber hinaus prägen sich die hilfreichen Gesten ein und können in späteren Jahren als emotionaler Anker für die Bewältigung von Krisen zur Verfügung stehen. So weiß ich, dass bittere Erfahrungen vorübergehen können und nicht unbedingt zu weiteren Komplikationen führen müssen. Auch bin ich in der Lage, mir selbst gut zuzureden, mich zu beruhigen oder mich zu trösten. Das Selbst wird zum eigenen Gefährten, der liebevoll, begleitend und unterstützend wirkt.
Durch die Ausreifung des Gedächtnisses in Verbindung mit der Sprache können die eigenen Erlebnisse zeitlich und räumlich geordnet werden, so dass bewusste Kommunikation über Wünsche, Gefühle und Eindrücke erfolgen kann. Das Selbst gewinnt die biographische Dimension, integriert neue Wahrnehmungsinhalte und sondert widersprechende Eindrücke aus. Immer klarer werden dabei die Grenzen zwischen Innen und Außen abgesteckt. Dies ist auch durch die zunehmende Komplexität notwendig. Das Umfeld wird weiter, andere Menschen gewinnen an direktem Einfluss, und bisherige unvertraute Situationen erfordern Anpassung und kreative Lösungen.
Durch die erhöhte Erfassungskapazität können immer mehr Aspekte in das Selbst, das zunehmend über die Ich-Funktionen organisiert wird, aufgenommen werden. Gerade aus der Abstimmung zwischen Ich und Selbst erwächst Identität. Ich weiß, wer ich bin, durch mich und dadurch, wie ich von anderen erlebt werde. Ich kann auch auf unterschiedliche Situationen verschieden reagieren und bin doch derselbe. Der Mensch erfährt sein Selbst als ein eigenständiges Zentrum und als Gesamtumfang, einen Bereich der Meinigkeit und Subjektivität. Darin lotet das Spürbewusstsein nicht nur die Bedürfnisse und die jeweils eigene Befindlichkeit aus, sondern es kommen zunehmend existenzielle Fragen auf: Warum lebe ich? Warum geschieht dies oder jenes? Warum ist das mein Vater und nicht jemand anderer?
Auch wenn die Hartnäckigkeit, mit der Antworten verlangt werden, nicht immer angenehm ist, ist es für die Persönlichkeitsentwicklung sehr wichtig, wenn man sich dafür Zeit nimmt. Erste Berufsfantasien (Feuerwehrmann, Profifußballer, Bäuerin u. a.) zeugen davon, dass Visionen, Ideale und Idole vorstellbar sind. Kritische Nachfragen zu Verhaltensweisen der Eltern oder anderer Personen zeugen davon, dass das Handeln an Moralvorstellungen und Werten gemessen wird. Das Selbst, das früher aus sich heraus agierte, kann nun betrachtet, analysiert und bewusst verarbeitet werden. Das Selbst kann sich selbst reflektieren und intentional erfassen. Innere Potenziale, Antriebe, Motive, Empfindungen und Wahrnehmungen werden im Selbst repräsentativ hinterlegt. Ziele werden angestrebt, Wünsche verwirklicht und Absichten verfolgt. Der Wille und die eigene Bemühung werden als
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