Vom Ego zum Selbst: Grundlinien eines spirituellen Menschenbildes
nicht mehr. Durch den Zusammenbruch der seelischen Architektonik besetzen mannigfache Identitäten den Binnenraum.
Auf dem Weg zu meiner Praxis sagte eine Stimme zu einem Klienten, dass er nach links abbiegen müsse, weil sonst seine Freundin ausgepeitscht würde. Einige Minuten später habe er einen ohrenbetäubenden Knall gehört, der sein Hörorgan verletzt hätte und weswegen er sich tags darauf einen Termin beim Arzt organisieren müsse. Daraufhin erschien eine furchterregende Gestalt, die ihn anal vergewaltigte. Bei mir angekommen, legte er sich für einige Minuten vor die Haustüre, weil ihm die Kraft entzogen wurde. Dann erzählte er mir von sehr unruhigen Tagen, in denen aufsässige Stimmen ihn ständig mit unangenehmen Befehlen traktierten. Er habe auch die Mutter in der Küche, nur mit Dessous bekleidet, gesehen. Sie wolle ihn unsittlich belästigen. Sein Vater musste ihn durch zwanzigfaches Abklatschen von diesen Erscheinungen befreien. Die Krankheit brach vor einigen Jahren bei einem Zeltlager aus, von dem er schwach und übermüdet heimkehrte. Dann legte er sich ins Bett und stand eineinhalb Jahre nicht mehr auf. Als sein Bart lang war, glaubte er, Jesus zu sein, der das Leid der Welt zu tragen hätte. Zunächst wurde von den behandelnden Ärzten ein chronisches Ermüdungssyndrom diagnostiziert, weil er ihnen nichts von Halluzinationen oder Stimmen berichtete. Bald wurde jedoch das Ausmaß der psychischen Krankheit erkannt.
Die Organisation des Selbst ist in psychotischen Zuständen ohne jede Beständigkeit. Es wird fortwährend, abhängig von den gegenwärtig dominanten Stimmen und Halluzinationen, neu formiert. Da es keine ordnende oder integrierende Autorität besitzt, können Empfindungen und Wahrnehmungen nicht durch vorhandene Selbst- und Weltbilder gedeutet werden. Ungerichtet nehmen Assoziationen, Fantasien, unbewusste Inhalte oder Gedankenfetzen in Form von realen Personen oder Situationen, die die Seele übervölkern, Gestalt an. Da dieses Geschehen nicht durch die konsensuale Wirklichkeitsauffassung korrigiert werden kann, bleibt es im zwischenmenschlichen Kontakt unverständlich. Das Selbst kann nicht mehr im gesellschaftlichen Weltgefüge verortet werden, der perspektivische Entwurf des »In-der-Welt-Seins« ist verlorengegangen.
Das, was innerlich passiert, erscheint wirklich, in einer wirklichen Welt, die es für andere nicht gibt. So zieht sich der besagte Klient zurück, kapselt sich ab und kommuniziert, ausgehend von den wahnhaften Vorstellungen, nur noch hinsichtlich pragmatischer Alltagsanliegen. Das einzelgängerische Verhalten verstärkt bizarre Attitüden und pathologische Prozesse. Sein Vertrauen schenkt er nur Menschen, die sich auf diese unsichtbaren Welten einlassen.
Neue Welten mit beziehungslosen Selbsten und wechselnden Identitäten, die sich ständig ändern und für andere unzugänglich bleiben, entstehen aus dem Nichts. Gedanken, Gefühle, Leibeswahrnehmungen und Beziehungen sind vom Selbst entkoppelt. Die Gedanken sind unklar und zerfahren, weil sie nicht in stabilen Bedeutungen verankert sind. Mitunter reißen sie ab, legen sich quer, werden entzogen oder beeinflusst. Nicht zu beherrschen sind aber bedrängende Halluzinationen und aufdringliche Stimmen. Das Heft des Handelns ist vollkommen aus der Hand genommen.
Dem Selbst fehlen zwei wichtige Merkmale: das Gefühl der Urheberschaft und die Begrenzung, so dass neben den obengenannten Belastungen noch erschwerend hinzukommt, dass sich Themen aus dem persönlichen Unbewussten ungefiltert mit kollektiven Symbolen und Mythengestalten vermengen: Etwa ein homosexueller Christus, der vom Kreuze herab befiehlt, dass man ihn auf den Kopf stellen müsse, oder die drei Meter hohe und böse Muttergestalt, die sich von Menschenopfern ernährt. Treten bestimmte Gestalten häufiger auf, fungieren sie meist als Eckpfeiler eines ausgebauten Wahnsystems. Es ist vergleichbar mit traumähnlichen Zuständen, in denen sich die kurz vor dem Einschlafen auftauchenden Impressionen zu Szenen zusammenbrauen.
Durch Kontroll- oder Zwangsmechanismen und Verflachung der Affekte, die den Patienten apathisch erscheinen lassen, wird vergeblich versucht, die anstürmenden Bilder und Impulse einigermaßen in den Griff zu bekommen. Unabhängig von der inadäquaten Verarbeitung von Reizen, die zu fehlerhafter Realitätsprüfung führt, sind die Werkzeuge des Gehirns, sind Wachheit, Orientierung und Merkfähigkeit intakt. Der Kontakt zur realen Umwelt
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