Vom Ego zum Selbst: Grundlinien eines spirituellen Menschenbildes
sich ein übergeordneter Plan, und inmitten unseres Wesens realisiert sich der evolutionäre Drang des Universums nach Optimierung. Das Selbst, als Zentrum des Individuums, ist untrennbar mit der kosmischen Ordnung verknüpft. Die organisierende Kraft, die die Ausbildung der Persönlichkeit steuert, ist also überpersönlich und nicht lokal. Das Universale ist, wie in einem Hologramm, in uns eingefaltet, so dass unser tiefstes Inneres stets mit dem Seinsganzen verbunden ist.
Das personale Selbst ist im universalen Selbst in zweifacher Hinsicht aufgehoben: Es ist in ihm beherbergt und hat sich zugleich überschritten. Durch das Licht im Herzen ist der Mensch mit dem Universalen verbunden. Über diese Brücke kommuniziert das letzte Geheimnis mit uns. Im Grenzenlosen und Formlosen sind alle Weisheiten und Schlüssel des Lebens zu finden. Das universale Selbst ist immer zugänglich und anregend, aber nie aufdringlich. Wer sich dorthin begibt, wird von heilsamen Atmosphären und fördernden Inspirationen durchflutet.
Über die innere Stimme und Zufälle bringt sich diese innere Weisheit immer wieder in Erinnerung, geduldig, bis sich eine weitere Gelegenheit zur Reifung ergibt. Sie braucht aber für ihre Wirksamkeit unsere Einwilligung, unsere Hingabe und Beharrlichkeit. Wir haben die Freiheit der Wahl.
Natürlich können wir dem Impuls nach Selbstverwirklichung auch im Wege stehen, ihn schwächen, ignorieren oder ablehnen. Der Veränderung stellen sich oftmals unsere eigenen Widerstände entgegen, weil wir nur ungern Vertrautes und Gewohntes aufgeben und Angst vor dem Ungewissen haben. Lieber wäre es mir wohl, wenn sich die Umgebung ändert, statt dass ich mich selbst dazu auffordere. Doch es kann keine authentische Veränderung der Welt geben, ohne dass wir uns selbst verändern. In der Evolution regiert weder purer Zufall noch blinde Vorherbestimmung. Nur im Lichte eines klaren Geistes kann sich unsere eigentliche Wesensnatur offenbaren.
Dies ist gerade jetzt für das Überleben der Menschheit von immenser Bedeutung. In Zeiten der Postmoderne, die von einer eigenartigen Ambivalenz geprägt ist: auf der einen Seite Desorientierung, Gewaltzuwachs, religiöser Fanatismus, Beziehungslosigkeit; auf der anderen Seite Solidarität, Liebe und spirituelle Sehnsucht. Die Kluft scheint krasser zu werden angesichts einer sich immer schneller drehenden Welt. Wir müssen aufpassen, dass wir uns nicht selbst vollends verlieren. Deshalb ist die immerwährende Botschaft der spirituellen Lehrer aktueller denn je: Werde langsamer, halte inne, kehre heim, schweige und höre, was aus der Stille deines Herzens kommt.
Transformierende Bewusstseinsprozesse und spirituelle Übungen reinigen, stabilisieren und öffnen den Menschen, um die gnadenhafte Einsicht in seine göttliche Natur tragen und mit Verantwortung erfüllen zu können. Die einst angelegte Öffnung zur Welt hin muss durch die mitfühlende und sorgende Umsicht bewusst erweitert werden, bis ich das Fremde umschließe. In der totalen Identifikation mit allem, was existiert, gehe ich in allen Lebewesen und der Schöpfung auf. Die Weltoffenheit wird zur Weltverbundenheit, in der ich mich als ein Sandkorn im Sand oder ein Wassertropfen im Meer begreife.
Das Leben wird unter dem Einfluss des universalen Selbst gegenwärtiger, weil im Vertrauen auf das, was geschieht, Vergangenes losgelassen und Zukünftiges offen angenommen werden kann. Wenn ich die Dinge einfach so passieren lasse, wie sie passieren, kann ich fehlerfreier handeln. Wer das Göttliche in jedem Menschen sieht, dessen Urteile werden mitfühlender und milder, weil klar wird, dass jeder Mensch nur so sein kann, wie er ist. Das Mögliche wird nämlich erst dann wirklich, wenn alle Bedingungen erfüllt sind, bis dahin bleibt es unmöglich. Diese Erkenntnis kann die inneren Dialoge beruhigen und den Geist stillen. Dann ist es nicht mehr notwendig aufzufallen, und alle Dramen und Storys, Emotionen und Konflikte können weiterziehen. Es gibt kein Äußerliches mehr, das mir widerfährt: Immer ist es auf mich bezogen, bin ich darin enthalten oder hat es mit mir zu tun.
Das nicht mehr gebundene und begrenzte Bewusstsein weiß, dass der Mensch durch das Allumfassende existiert und es sich auch durch ihn manifestiert.
Das frühere »Ich bin«, das das Selbst noch über unterschiedliche Merkmale definieren und sich als autonomes Zentrum erleben musste, verliert auf diesem Pfad sein Ich und wird selbst zum fließenden Sein,
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