Vom Ende einer Geschichte
meine Wohnung und alles, was ich brauche. Ich habe ein paar Kumpel, mit denen ich einen trinken gehe, und mehrere Freundinnen – platonisch, natürlich. (Und die gehören auch nicht zu dieser Geschichte.) Ich bin Mitglied der hiesigen Historischen Gesellschaft, bringe aber nicht die rechte Begeisterung dafür auf, was Metalldetektoren alles zutage fördern. Seit einiger Zeit betreue ich ehrenamtlich die Bibliothek in unserem Krankenhaus; ich mache meine Runde durch die Stationen, teile Bücher aus, sammle sie wieder ein und gebe Empfehlungen ab. So komme ich mal vor die Tür, und es ist gut, etwas Nützliches zu tun; außerdem lerne ich so neue Menschen kennen. Kranke Menschen natürlich, auch sterbende Menschen. Aber wenigstens kenne ich mich im Krankenhaus aus, wenn ich mal an der Reihe bin.
Das ist dann ein Leben, nicht wahr? Ein paar Erfolge und ein paar Enttäuschungen. Für mich war es interessant, aber ich würde mich nicht beklagen oder wundern,wenn andere das anders sähen. Vielleicht wusste Adrian in gewisser Hinsicht, was er tat. Dabei wollte ich mein eigenes Leben um keinen Preis missen, versteht sich.
Ich habe viel erlebt und viel überstanden. »Wer viel erlebt, kann viel erzählen« – so heißt es doch, nicht wahr? Geschichte ist nicht die Summe der Lügen der Sieger, wie ich Old Joe Hunt einst nassforsch versichert hatte; das weiß ich jetzt. Sie ist eher die Summe der Erinnerungen derer, die viel erlebt und viel überstanden haben und meistens weder Sieger noch Besiegte sind.
Im späteren Leben erwartet man doch ein wenig Ruhe, nicht wahr? Man meint sie verdient zu haben. Jedenfalls war das bei mir so. Aber dann begreift man allmählich, dass das Leben sich nicht bemüßigt fühlt, Verdienste zu belohnen.
Außerdem meint man in jungen Jahren vorhersehen zu können, was das Alter wahrscheinlich an Schmerzen und Trübsal mit sich bringen wird. Man stellt sich vor, dass man einsam, geschieden, verwitwet ist; dass die Kinder einem entwachsen, Freunde sterben. Man stellt sich den Statusverlust vor, den Verlust des Begehrens – und den Verlust des Status eines begehrenswerten Menschen. Vielleicht geht man noch weiter und denkt an das Nahen des eigenen Todes, dem jeder, selbst wenn er andere um sich hat, nur allein ins Auge sehen kann. Aber das ist alles ein Blick nach vorn. Dabei richtet man nie den Blick nach vorn und stellt sich dann vor, wie man von der Warte der Zukunft aus zurückschaut, die neuen Gefühle erlernt, die die Zeit mit sich bringt. Zum Beispiel die Erkenntnis, dass es, weil es immer weniger Zeugen des eigenen Lebens gibt, auch weniger Bestätigung und folglich weniger Gewissheit darüber gibt, was man ist oder geworden ist. Selbst wenn man eifrig Belege gesammelt hat – in Worten, Tönen, Bildern –, muss man womöglich feststellen, dass man die falschen Belege gesammelt hat. Wie hieß dieser Satz, den Adriandamals zitierte? »Geschichte ist die Gewissheit, die dort entsteht, wo die Unvollkommenheiten der Erinnerung auf die Unzulänglichkeiten der Dokumentation treffen.«
Ich lese immer noch viel über Geschichte, und selbstverständlich verfolge ich die offizielle Zeitgeschichte – den Zusammenbruch des Kommunismus, Mrs Thatcher, 9/11, den Klimawandel – mit der normalen Mischung aus Angst, Beklemmung und vorsichtigem Optimismus. Diese Geschichte steht für mich aber auf einem anderen Blatt – einem, dem ich nicht recht traue – als das, was in Griechenland und in Rom geschah oder im Britischen Empire oder in der Russischen Revolution. Vielleicht fühle ich mich einfach sicherer bei der Geschichte, über die mehr oder weniger Einigkeit herrscht. Oder es ist wieder dasselbe Paradox: Die Geschichte, die sich direkt vor unserer Nase vollzieht, sollte eigentlich am klarsten sein, und doch ist sie am schwierigsten zu fassen. Wir leben in der Zeit, sie begrenzt und bestimmt uns, und die Zeit sollte das Maß der Geschichte sein, oder nicht? Doch wenn wir die Zeit nicht verstehen, die Mysterien ihres Fortgangs und Fortschritts nicht begreifen können, wie soll das erst bei der Geschichte sein – und sei es nur unserem eigenen kleinen, persönlichen, weitgehend undokumentierten Anteil daran?
Wenn wir jung sind, kommt uns jeder über dreißig alt vor, jeder über fünfzig vergreist. Und in dem Maße, wie die Zeit vergeht, bestätigt sie uns, dass wir gar nicht so unrecht hatten. Die kleinen Altersunterschiede, die in jungen Jahren so schwerwiegend und entscheidend sind, schleifen
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